brigitta muntendorf

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Listen. LISTEN. Lasst uns zuhören. Lasst uns RADIKAL ZUHÖREN:
Der Erschütterung. Der Fassungslosigkeit angesichts der GEWALT und GEWALTBEREITSCHAFT! Gegen Körper, gegen weibliche, kindliche! Ich sitze in der Bahn und fange an zu HEULEN, wenn ich an all die GEWALTSPIRALEN und TRAUMATA denke, die in dieser Sekunde ihren Lauf nehmen! Die sich jetzt, gestern und morgen ewig kreisend im ORBIT manifesVeren! Wenn ich daran denke, dass nur ein BRUCHTEIL dieser Menschen die Chance bekommen wird, sie BEWZINGEN zu können! Ich bin WEISS GOTT nicht nah am Wasser gebaut, doch dieser Schmerz ist LEERE ist LÄRM ist REAL, VERDAMMT! ICH HABE WUT! DER LÄRM IST IN MIR, und erzähle mir nicht, er wäre nicht IN UNS!

von Brigitta Muntendorf & Moritz Lobeck

Im Himmel ist es besser, da alle Lust viel größer1

Die Kultur im Allgemeinen – alle menschliche Kultur – öffnet die Beziehung zum Tod, die durch den Tod geöffnete Beziehung. Ohne den Tod gäbe es keine Beziehung, sondern lediglich eine universelle Adhärenz, eine Kohärenz und eine Koaleszenz, eine Gerinnung von allem (eine fĂĽr neues Keimen immer belebende Verwesung). Ohne den Tod gäbe es ausschlieĂźlich Kontakt, unmittelbare Nachbarschaft und Ansteckung, krebsartige Verbreitung des Lebens, das folglich auch nicht mehr das Leben wäre […]. Der Tod öffnet die Beziehung: das heiĂźt die Teilung des Fortgangs (partage du dĂ©part). Jeder kommt und geht zielund endlos, unentwegt.2

Tracey Emin, „Lonely Chair drawing No. V“, in: Jonathan Jones, „Tracey Emin“, Works 2012–2017, New York: Rizzoli, 217

In Zeiten, in denen die Menschheit gleichzeitig an ihrer Unsterblichkeit wie an ihrer Auslöschung arbeitet, hat der Tod eine permanente Präsenz und scheint gleichzeitig abhanden gekommen. Vielleicht liegt eine Ursache für dieses Paradoxon im Fehlen von Räumen und Ritualen, die Trauer um Verlust und Vergänglichkeit zulassen und sichtbar machen. Räume und Rituale, die Bewusstwerdung, Vergegenwärtigung und Unbefangenheit gegen- über überwältigenden Emotionen schaffen und mit Widerständigkeit einer Welt dynamischen Wachstums gegenübertreten, um schließlich den Tod als radikalste Form der Entschleunigung einzufordern.

Den groĂźen Versuchen der Menschheit, sich in Religionen „von der Verfolgung der Toten, der Boshaftigkeit des Jenseits und den Ă„ngsten der Magie zu befreien“3 folgte nicht nur im Nachkriegsdeutschland auf die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges eine Unfähigkeit zu trauern, die sich bis hin zu einer „manischen Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder“4 entwickelte. Die Schreckenswirkung des Todes ist inzwi- schen global in der neuen Religion des Kapitalismus aufgegangen. Hochtechnisierung abstrahiert Naturprozesse wie Werden, Sterben und Verwesen, ethisch und moralisch aufgeladene Marketingstrategien verdrängen eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit. Zu diesen Entfremdungstendenzen gesellt sich aktuell wieder die Gefahr, dass Rechtspopulisten offensiv wie zynisch mit einer revisionistischen Gedenkkultur die Schrecken des Todes marginalisieren, heroisieren, relativieren und instrumentalisieren.

Intimität und Melancholie

In der Heroisierung wird der Tod missbraucht, in der Verdrängung wird er tabuisiert. Der Tod braucht eine Befreiung, ebenso wie ein neues Verhältnis zu Sexualität und Körper seit der sexuellen Revolution eingefordert wird. Der Tod und das Sterben, überwältigende Emotio- nen als Reaktion auf Verlust brauchen eine Befreiung in neue Räume der Intimität.

Es ist nicht die Vernetzung, die den Menschen in unserer individualistischen Gesellschaft aus der Einsamkeit und Scham befreit, sondern die Intimität. Intimität als Zustand tiefster Vertrautheit ermöglicht die Vergegenwärtigung des Sterblichen im Miteinander. Intimität lässt Lust, Liebkosung oder Sehnsucht zu, wie sie auch Trauer zulassen kann. In diesem Innersten, „vom Rand Entferntesten“, können Emotionen sich entfalten, geschehen auch tiefste Verletzungen, werden wir mit unseren Unsicherheiten konfrontiert.

Trauern von mittelhochdeutsch „tru ̄ren“, althoch- deutsch „tru ̄re ̄n“ mit der Bedeutung „die Augen niederschlagen“ ist mit dem gotischen Begriff „driusan“ verwandt, dem „Fallen“, „Niedersinken“, kraftlos werden“. Trauern ist ein Bewältigungsprozess, in dem sich der Mensch in eine bewusste Auseinandersetzung mit Schmerz und Verlust und der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit begibt. Eine Ich-Leistung mit dem Ziel der friedlichen Übereinkunft, in der Verdrängung keine Option ist.

Albrecht Dürer, „Melencolia I“ (1514) und Selbstbildnis (1512– 1513). Der Fingerzeig des Malers richtet sich auf die Milz, seit der Antike galt dieses Organ (splen) als Sitz der Melancholie.

Den Zustand des Verlusts dieser Ich-Leistung beschreibt Freud als Melancholie, wenn er von „einer Aufhebung des Interesses fĂĽr die AuĂźenwelt“5 spricht und damit die Gefahr des Sich-Verlierens bis hin zur Selbstzerstörung benennt. Gleichzeitig birgt dieses melancholische Moment der Loslösung auch das Moment der Kontemplation in einem Zustand höchster Sensibilität. Die hier eintretende Ich-befreite Akzeptanz des Unlösbaren ist auch dem Trauerprozess immanent, wenn „Frieden gefunden“, der Verlust akzeptiert wurde. In Albrecht DĂĽrers berĂĽhmtem Bild „Melencolia I“ deutet LászlĂł FöldĂ©nyi den fĂĽr die Kunstgeschichte rätselhaften unbearbeiteten Steinblock oder Polyeder als Sinnbild fĂĽr die Melancholie, fĂĽr das Unlösbare inmitten von menschlicher Sehnsucht nach Erlösung und der rationalen Entzauberung der Welt.6 Trauer und Melancholie berĂĽhren sich in diesem Kreislauf der Vergegenwärtigung und des Unauflöslichen – zwei Attribute, die gerade die Musik in einer besonderen Intensität und Intimität verhandeln kann.

Happy Lamento oder die Kunst der Klage

Der Melancholie steht die Klage in der Sichtbarmachung des Ursächlichen gegenüber. Das Selbst ist in der Klage omnipräsent, brechen doch Schmerz, Leid, Wut und Enttäuschung aus dem Körper heraus und erfahren Entäußerung. In orientalischen oder altägyptischen Trauer- bräuchen wird dieses Beklagen zum Beispiel mittels Outsourcing institutionalisierten Klageweibern übergeben.

In unserer Kultur scheint eine solche institutionalisierte Form des Trauerns und Klagens vielleicht noch in der Schweigeminute oder den Playlists von Beerdigungsinsti- tuten präsent, ansonsten greift eine herumlamentierende, egozentrische Beschwerdekultur um sich. Es scheint, als seien hier Klagen und Trauern aus der Balance geraten.

Das Lamento (von lamentare = weinen, klagen) gilt in der westlichen Musik als Inbegriff der musikalischen Klage, als schlichte, absteigende Linie definiert, die als Lamentobass die Arien Monteverdis, die Messen Bachs und Mozarts, die Lieder und Streichquartette Schuberts oder auch Mahlers Œuvre per se durchschreitet. Ein Klage-Topos, der als rhetorische Figur und in seiner Stilisierung die Wehklage gesellschaftsfähig gemacht hat.

In anderen Kulturen begegnen wir Lamenti in ihrer ur- sprünglichen emotionalen und physischen Entäußerung von Schmerz bis hin zum Übergang in transzendente Zustände, in denen vor allem die Grenzen zwischen Kla- gen und Jauchzen angesichts eines Körpers in Ekstase verschwimmen. Klang jedweder Art formt sich dabei mit- tels Wiederholungen zu musikalischen Mantras, die den Kontrollverlust rhythmisieren. Dabei werden Schmerz, Trance und Erschöpfung in ihrer symbiotischen Verbin- dung und in kollektiver Intimität als eine erste Stufe im Prozess der Trauer verstanden.

Vor dieser körperlichen Klage-Werdung scheint westliche Klagemusik uns zu schützen, damit wir im Verlust „die Fassung bewahren“, uns „nicht gehen lassen“, „tapfer bleiben“ (aber durchaus leiden), als würde sie uns dazu anleiten, Schmerz und Trauer zwar zuzulassen, dabei aber einen gewissen Abstand zu wahren. Doch wovor schützen? Vor dem Lachen? In dieser Kultur manifestiert sich ein „Entweder-Oder“, und somit auch eine emotionale Sanktionierung des Heiteren, der Möglichkeit zum „Happy Lamento“.7

Musik zum Trauern

Trauermusik kann ganz unterschiedliche Funktionen haben. Sie kann ein Ritual begleiten. Dabei unterstĂĽtzt sie oft die Wirkung der Entlastung, die ein Ritual haben kann. Zusammen mit dem Ritual vermag sie unartikulierbare GefĂĽhle zurĂĽck zu binden. Trauermusik kann aber auch ganz unmittelbar verschiedenste Emotionen der Trauer artikulieren.

Musik zu Tod und Trauer spiegelt aber darüber hinaus auch Haltungen gegenüber Sterblichkeit und Vergänglichkeit wieder und nimmt damit auch eine Haltung zum Leben ein. Neben dieser anlassgebundenen Trauermusik gibt es aber auch Musiken, die zunächst scheinbar nichts mit Tod und Abschied zu tun haben. Aber als eine persönliche Erinnerungsmusik können sie eine überaus Trost und sinnstiftende Rolle im Trauerprozess einnehmen. Insofern ist Musik zu Tod und Abschied mehr als nur als die vielleicht klangillustrierende Begleitung einer Zeremonie. Sie verknüpft angesichts einer die Existenz in Frage stellenden Lebenssituation das Moment der Emotionen mit der Frage der Bedeutung. Sie kann in einem Moment des Unfassbaren Menschen einen großen Halt geben.8

Der Tod ist unvermeidlich mit kulturellen und gesellschaftlichen Konstruktionen verbunden. Die Suche nach Bedeutungen, Symbolen und Repräsentationsräumen ist der Versuch, den Zustand einer Abwesenheit, einer Lücke, ertragen zu können und im Ausgeliefert-Sein Trost finden zu können.

Trauermusik kann solchen Trost bieten – für das Individuum, für eine Gemeinschaft. Trauermusik bewahrt davor, im Nichts zu verschwinden, sie ermöglicht eine Begegnung mit uns selbst. Indem wir uns ihr hingeben, erklären wir sie zu unserer Vertrauten, der wir unsere Emotionen bedingungslos anvertrauen und übergeben – ohne die Kontrolle zu verlieren. Das ist das große Versprechen der Trauermusik und unterscheidet sie vom Lamento – Trauermusik können wir jederzeit ausschalten. Die Leere als Erscheinungsform einer Überforderung, eine emotionale, eine unsere Vorstellungskraft betreffende, wird durch Trauermusik mit unseren Emotionen gefüllt. In diesem Verlust des Originären ist die Trauermusik die Coverversion, in der wir unser Lied singen.

Funktionalität der Leere

Funktionalität wird aus einer Notwendigkeit heraus geboren – etwas fehlt und im besten Sinne dann, wenn es wirklich gebraucht wird. Trauermusik ist immer funktio- nal. Wir brauchen sie für eine außermusikalische Leistung, den Halt, wenn wir selbst überwältigt, überfordert, erschöpft sind. Wir brauchen sie für aber ebenso als Klangwerdung unseres ganz persönlichen Lamentos.

Funktionalität im Sinne einer Überwältigungsästhetik (mehr kaufen, besser arbeiten, stärker dazugehören) will Intensität in größtmöglichen Maße hervorrufen und un- sere Euphorie, unsere „euphoria“, die „Fruchtbarkeit“ und „Produktivität“ für eigene Zwecke nutzen. Diese Funktionalität gaukelt uns vor, die Euphorie wäre unsere eigene und unsere Überwältigung eine „Ich-Leistung“.

Musik in ihrer tröstlichen Seite kann uns aus dem Zustand der Überwältigung in die Fähigkeit der Bewältigung überführen – ausschließlich durch Emotionalität befähigt sie uns zur vielleicht größten Ich-Leistung überhaupt, der Anerkennung des eigenen Scheiterns, dem Erfahren der eigenen Grenzen und der Begrenztheit des Daseins.

Musik kann die individuelle und kollektive Vielfalt des Klagens und Trauerns fassen, Befreiungspotential entfesseln und dabei verschiedenste ritualisierte oder freie Ausdrucksformen annehmen. Skurriles und Ergreifendes geben sich hier die Hand: Den Trauermarsch, in dem Lebende und Tote gleichermaßen getragen werden, komponierte Händel in Dur (heute der Standard-Trauermarsch der Bundeswehr), während Purcell seinen „Funeral March for Queen Mary“ in vier Kadenzen anlegte, die je nach Dauer des Zugs beliebig oft wiederholt werden können und der Komponist somit garantiert, dass der Sarg nicht ohne Musik getragen werden muss. Wenn Louis Armstrong in „New Orleans Function“ den Trauermarsch aufgreift und das Schreiten in einen Swing und schließlich in eine Ekstase als Ausdruck der Jenseitsfreude über- führt, dann manifestiert sich darin auch ein anderes Verständnis dieser Kultur. Wenn Stevie Wonder in seiner Empörung darüber, dass der ermordete Bürgerrechtler Martin Luther King ein nationaler Gedenktag verweigert wurde, im Jahre 1980 ihm zu Ehren das berühmte „Happy Birthday“ komponierte, dann zeigt uns dies neben der politischen Kraft von „Trauer“musik auch ihr Potential in der Wiederbelebung des Sterblichen. Und wenn wir nach Dresden schauen, wenn gerade Mauersbergers Motette „Wie liegt die Stadt so wüst“ gesungen wird, deren Texte aus den Klageliedern des Jeremia 586 vor Christus entnommen wurden und als Gleichnis den Zustand der Stadt 1945 bei der Uraufführung in der Kreuzkirche widerspiegeln – und in das eine oder andere Gesicht blicken, in dem die Begegnung mit der Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen hat, dann lässt uns diese Trauermusik etwas erfahren, nämlich die unveränderliche und nahezu untragbare Verzahnung von Zeitgeschichte und Gegenwart. Und wenn zum x-ten Male „Candle in the Wind oder „Stairway to Heaven“ auf der Liederliste für eine Beerdigung erscheint, dann wird nicht nur die Hilflosigkeit einer Gesellschaft sichtbar, sondern auch die Tatsache, dass die Popkultur keine Berührungsängste zeigt, wenn es um Tod und Vergänglichkeit geht.

Digital Death

Das Museum ist keine Sammlung von Dingen, sondern eine Versammlung von Personen. […] FĂĽr das Museum ist der Tod nicht das Ende, sondern der Anfang.9

Im Netz begegnen wir einer Vielzahl von digitalen Trauer- und Gedenkportalen, Online-Friedhöfen mit vir- tuellen Grabsteinen, ebenso wie Suchhilfen für Trauer- anzeigen und die dazu generierten Gedenkseiten von Ta- geszeitungen. Diese Plattformen sind nicht nur als digi- tale Modelle unserer Sterbekultur zu verstehen – digitale Erlebnisse lassen sich nur im digitalen Raum abbilden, können nur hier als Erinnerungsstücke bewahrt und ver- wahrt werden.

In Nikolai Fjodorows 1913 formuliertem Manifest ĂĽber Sinn und Bestimmung des Museums konstatiert er das Potential dieses Orts, „Trost fĂĽr alles Leidende zu spenden“, und imaginiert das Museum als Ort, der uns zeigt, „dass es keine beendeten Dinge gibt“ und somit „Aus- druck des allen Menschen gemeinsamen Gedächtnisses, gleich einer Versammlung aller Lebenden“10 ist.

In dem sich gerade herausbildenden digitalen Sepulk- ralmuseum ist es der Tod, der Existenzen verlängert. Statt Blumen auf Gräber zu legen werden hier auch posthume Identitäten kreiert, ein Prozess, der als posthume Performanz bezeichnet werden kann.Gleichermaßen bildet sich derzeit auch eine Digital Afterlife Industry heraus, die sich mit Online-Trauerkultur bis hin zu Möglichkeiten des Dialoges mit den posthumen Identitäten der Verstorbenen befassen.11

Ob hier ein Dialog mit einer posthumen Identität zu einem Verdrängungsprozess oder einer (profitablen) Ver- klärung führt oder ob ganz im Gegenteil die Konfrontation mit Verlust und Endlichkeit gelingt, scheint ungewiss. Gewiss jedoch ist, dass sich hier ein neuer kultureller Raum öffnet, der dringend unserer Sensibilisierung für den Umgang mit Trauer bedarf.

Vielleicht brauchen wir eine neue Romantik, um die Notwendigkeit von Intimität und Trauer wieder zu erkennen. Dabei ist keine Romantik im Sinne einer übertriebenen Gefühligkeit gemeint, sondern im Sinne einer essentiellen Gefühligkeit, einer Unschärfe in einer technisierten Gesellschaft. Eine Romantik, folgend der Idee der Negative Capability, die der britische Dichter John Keats 1817 als die Fähigkeit definierte, „sich in einem Zustand voller Unsicherheiten, Geheimnisse und Zweifel zu befinden, ohne sich nervös nach Fakten und Verstandesgründen umzusehen.“12

Ren Hang. Der chinesische Fotograf nahm sich 2017 im Alter von neunundzwanzig Jahren das Leben. Hang veröffentlichte seine Tagebucheinträge und analogen Fotografien fast ausschließlich im Internet.

Diese Romantik meint Kontemplation und Verweilen, beschreibt jenes Besinnen, das das Abbild des Menschen eben nicht als „quantified self“ versteht. Und ebenso wie der Individualismus neue Möglichkeits- und Freiheitsräume schafft, ist er gleichzeitig auch eine Überforderung. Ein „Ich bin“ immer wieder mit Attributen zu versehen und als ein „ich stehe für“ zu begreifen bedeutet ein permanentes Abgleichen mit der Welt. Diese Kontinuität muss auch Erschöpfung implizieren, jene Erschöpfung, die einem in der Trauer begegnet: Die Erschöpfung als Voraussetzung für das Eintreten in eine neue Entwicklung – oder als Vorbote des Todes.

Der Text steht am Beginn einer gemeinsamen kĂĽnstlerischen Forschung und Auseinandersetzung von Brigitta Muntendorf und Moritz Lobeck fĂĽr die Produktion “Melencolia” mit dem Ensemble Modern (Bregenzer Festspiele 2021). Moritz Lobeck, Musikwissenschaftler, arbeitet als Dramaturg und Kurator u.a. fĂĽr Oper Stuttgart, Wiener Festwochen, HELLERAU – Europäisches Zentrum der KĂĽnste.

Quellenverzeichnis

1 Anonymus, Johann Sebastian Bach, „Komm, sĂĽĂźer Tod“.
2 Jean-Luc Nancy, Noli me tangere, ZĂĽrich: diaphanes, 2008
3 Claude LĂ©vi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, 405.
4 Alexander und Margarete Mitscherlich, „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“, MĂĽnchen: Piper, 1968, 25.
5  Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: Gesammelte Werke – Werke aus den Jahren 1913–1917, Berlin: S. Fischer, 1946, 428.
6  LászlĂł F. FöldĂ©nyi: „Lob der Melancholie: Rätselhafte Botschaften“, Berlin: Matthes & Seitz, 2019.
7 Vergleiche Alexander Kluges Film „Happy Lamento“, 2019. MusikTexte 162
8 Marcell Feldberg, Forschungsstelle fĂĽr Sepulkralmusik, Robert Schumann Hochschule DĂĽsseldorf unter der Leitung von Volker Kalisch, in einem Interview mit Brigitta Munten- dorf vom 28. Mai 2019. Kalisch/Feldberg belegen in Deutsch- land die einzige Forschungsstelle fĂĽr Sepulkralmusik und erkunden Trauermusik und ihre Kontexte, viele Impulse aus den Gesprächen sind in diesen Text eingeflossen.
9  Nikolai Fedorov, „Das Museum, sein Sinn und seine Be- stimmung“, in: Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Boris Groys, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, 130.
10  Ebenda, 149.
11  Carl Ă–hman, „What we leave behind: our digital afterlife“,me Convention talks, Interview: youtube.com
12 Horace Elisha Scudder (Herausgeber), The complete Poetical Works of John Keats, Boston: Riverside Press, 1899, 277.

Ăśber die Eigenregie des Schmerzes

Das Musiktheater des Gegenwärtigen. Dabei geht es nicht nur um die Gegenwart als einen temporalen Begriff, als das Hier und Jetzt und zwischen Vergangenheit und Zukunft in jedem Moment vergehende. Das Gegenwärtige ist das Anwesende.  Und somit liegt das Gegenwärtige im Auge des Betrachters. Das Gegenwärtige erfährt in diesem Auge nicht nur eine relative, sondern auch selektive Rezeption – es kann als memento mori die eigenen Endlichkeit vermessen, als Referenzpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft gesetzt oder als Parameter einer Gleichzeitigkeit und sogar des Anachronismus vernommen werden. 

D.h., wenn wir über Musiktheater des Gegenwärtigen sprechen, dann sprechen wir darüber, ob wir das Spielfeld Gegenwart in Form eines wie auch immer gearteten Narrativs bewusst vorgeben und somit auch begrenzen, ob wir Gegenwart geschehen lassen und den Dynamiken von An- und Abwesenheiten ihren Lauf lassen oder ob wir die Gegenwart künstlerisch vermessen und als Spiegelbild der Auseinandersetzung definieren.

Alle drei Vorgehensweisen können zu vielfältigen Formaten fĂĽhren, ebenso reflektierend wie trivial begleitend, doch können sie die Oper nicht umgehen. D.h. eigentlich können sie die Messe nicht umgehen, das Gesamtkunstwerk schlechthin. Nicht nur, dass Architektur, Malerei, Musik (und sogar räumliche Musik), Weihrauch, Wein, Ritual und Theater hier Hand in Hand gehen – fĂĽr den Gläubigen ist das Realität und nicht AuffĂĽhrung. Doch während die Messe als Ritual religiöse Verbindlichkeiten einfordert und die Oper noch immer auf der Titanic stattfindet ist das Musiktheater des Gegenwärtigen immer der Versuch einer Eigenregie. 

Kluge Sie haben gesagt, daĂź Sie eigentlich ĂĽber Opern nicht weinen können.

Muntendorf  Ich gerate dabei immer wieder in einen Zustand der Dissoziation und beobachte mich und die Oper.  

Kluge Trotzdem versuchen Sie, ĂĽber Opern eine Antwort zu finden hier auf dem KongreĂź der…

Muntendorf …apathischen Gesellschaft auf der Suche nach Gegenwärtigkeit, die ich unter dem Namen EchoAche ausrufe. 

Kluge Was ist EchoAche?

Muntendorf  Es ist ein Musiktheater des Gegenwärtigen in Form einer Gesellschaft, die Schmerz, Verlust und Trauer tagtäglich erleidet und gleichzeitig damit konfrontiert ist, dass diese Zustände in ihrem kapitalistischen System, sofern man dieses Wort noch benutzen darf, abstrahiert und unsichtbar gemacht werden. Es ist eine Gesellschaft, die dem Vorgang des Erfahrens ihres eigenen Echos beraubt und der stattdessen die Rolle des Zwangsechos aufoktroyiert wurde.  Sie wird gezwungen, sichtbar zu sein, kreativ zu sein, zu produzieren, sich zu verhalten, leistungsfähig zu sein – sie ist die Loopbegleitung in dem weltumfassenden Gesamtkunstdrama Caremen, gekĂĽmmert wird sich hier jedoch in erster Linie um die Anzahl der verkauften Tickets. Oder anders ausgedrĂĽckt – darum, dass der Loop kein Echo werden kann. EchoAches möchte sich aus dieser Gefangenschaft und Dissoziation befreien, sich erfahren, sich im Sinne Donna Haraways verwandt machen und Prozesse erleben, durchleben, konstituieren. Sie wollen sich selbst hören können, wollen ihre Worte und Klänge von dem Anderen gespiegelt bekommen und den theatralen Akt der Transformation von ihrem zum anderen Medium erleben.

Kluge Was ist Schmerz? Er ist ja offenkundig je nach Stand verschieden. Die Prinzessin auf der Erbse ist kaum als Arbeitertochter vorstellbar, es muss eine sehr hochstehende Dame sein, die dieses FeingefĂĽhl, diese exzessive Mehrwertproduktion an Schmerz entwickeln kann.

Schlingensief Ich wĂĽrde Schmerz als ein mannigfaltiges Musikinstrument bezeichnen, das ĂĽber mehr Nuancen verfĂĽgt, als die Orgel…

Muntendorf …und als Dissonanz mit der Konsequenz der unmittelbaren Anteilnahme.  Schmerz ist eine produktive Kraft, die nur aus einem Innen kommen und niemals von einem AuĂźen auferlegt werden kann. Schmerz ist nicht relativ, sondern absolut, die Anteilnahme hingegen kann in Hinblick auf Prinzessin und Arbeitertochter variieren.

Aber auch hier kommt das Echo ins Spiel, das Echo als Ausdruck von Schmerz und dem Widerhall als Reflektion, ein theatraler Akt der (Selbst)Erkenntnis und schöpferischer Innovation, ein Stimmenlaut fernab von patriarchischen Entdeckerfantasien und der Suche nach dem Originären in dem Anderen.

Kluge Das ist eine luxurierende Sache. Wenn die SchmerzzufĂĽgung nicht stattfindet, dann entsteht die Oper als Luxusinstrument?

Muntendorf Als ein Fake-Instrument, heute in Form eines hybriden Jesus.

Kluge Um auf die Tonalität des Schmerzes aufzusetzen ohne dass es den Zuschauer schmerzt?

Muntendorf EchoAches hat keine Zuschauer, es hat vielleicht Leidensgenossen oder Spielgefährten, aber keine Zuschauer in Form von AuĂźenstehenden. Denn auch die haben verlernt, Schmerzen wahrzunehmen. Vielleicht wissen sie es noch nicht, aber das spielt ebenso wenig eine Rolle, wie die Frage, ob man dieses Wissen mit ihnen frontal oder immersiv teilt. EchoAches erhebt die eigenen Stimmen, die Singstimme, die Sprechstimme, die fragile Stimme, die synthetische Stimme, sie erfinden sogar neue Sprachen und erheben das Schweigen. EchoAches hat nichts zu faken, weil schon alles verloren ist. 

Kluge Ich habe Schmerzen, also bin ich…

Muntendorf … also entäuĂźere ich mich. Die Fähigkeit, Schmerzen zu fĂĽhlen, schafft Wahrhaftigkeit, nichts Anderes meint der umgangssprachliche Ausdruck „Ich mache mein Ding“. Die Frage in EchoAches ist eine zentrale: Wessen Schmerz transportieren diese Menschen auf der BĂĽhne, wer sind sie und in welcher Rolle treten sie auf? In der Oper ĂĽbernehmen sie fiktive Charaktere, in EchoAches begeben sie sich auf die bewusste Suche nach ihrem eigenen Schmerz oder verstehen sich als Transmitter meiner Anteilnahme, in beiden Formen entstehen Echoräume, als Projektionen oder als Schablonen. Dem Echo wohnt inne, dass es das Medium wechselt – in der Erzählung ist es Echo, die die letzten Worte Narciss’ wiederholt oder die nach der Auflösung ihres Körpers als Gebirgswand die eigenen Worte zurĂĽckschallen lässt. In dem ich nicht spreche, sondern mich höre, höre ich aus der Perspektive des Anderen mir zu. EchoAches möchte sich diese Fähigkeit, eine Art Performanz des Zuhörens, zurĂĽckerobern, um ĂĽberhaupt wieder empfinden zu können.

Kluge Die Oper konzentriert das LebensgefĂĽhl, das in der Alltagspraxis so konzentriert nicht vorkommen kann, denn sonst hätten wir Mord und Totschlag in jedem Schlafzimmer.

Muntendorf Ja, es ist absurd, denn insofern stellt die Oper fĂĽr eine betäubte Gesellschaft einerseits eine Utopie dar, weil sie den Schmerz zum Gegenstand macht, und gleichermaĂźen eine Entfremdung, weil sie ihn pornografiert. Und da sind wir dann bei dem Massaker im Schlafzimmer. EchoAches verhandelt den Schmerz – MusikerInnen, TänzerInnen, SchauspielerInnen usw. begeben sich zusammen in eine Recherche, in verschiedene mehrtägige Phasen von Expeditionen zu den Grenzen der anderen und inmitten in eine Differenz des Miteinanders. Gemeinsame Nenner interessieren nicht, wenn eine Schlagzeugerin auf einen Tänzer trifft, dann ist der gemeinsame Nenner das, was wir ĂĽberwinden mĂĽssen, um eine eigene Sprache zu entwickeln. Diese Differenzen liegen in EchoAches ĂĽbrigens auch grundlegend in der Transkulturalität, etwas, was ich in der Oper vermisse.  Wir leben in Transkulturen, in Durchmischungen, wir mĂĽssen viele Diskurse fĂĽhren und kĂĽnstlerisch verhandeln, was fĂĽr ein Abenteuer! Die Oper ist weiss. Sie muss die Chance bekommen, Farbe zu bekennen, sich in unsere Zeit zu schwingen und ihr Dasein nicht nur als blasse und antiquierte Referenz zu fristen. Deswegen fĂĽhren wir unsere kĂĽnstlerischen Recherchen zum Schmerz im Feld Kultur, Klang, Bewegung und Technik auch in Proberäume, die an Opernhäuser angeschlossen sind, es sind sogar OpernsängerInnen dabei, einige aus dem Chor und einige MusikerInnen aus dem Opernorchester. Wir können nicht den ganzen Korpus auf einmal verändern, aber wir können StĂĽck fĂĽr StĂĽck diese talentierten MusikerInnen in unsere Prozesse integrieren.

Kluge Das Motto der Veranstaltung heiĂźt: „GleichgĂĽltigkeit zerstört alles“. Apathie ist der einzige Zustand, der hassenswert ist.

Muntendorf Apathie ist bedrohlich, weil sie anwesend abwesend ist. 

Kluge eine Betäubung…

Muntendorf …nehmen wir die jetzige Situation zum Beispiel. Wie schmerzhaft ist die Erkenntnis, dass Kunst in brisanten Zeiten keine Bedeutung zugeschrieben wird. Dabei ist es gerade das Musiktheater, jede Form von hybriden ZusammenkĂĽnften, die Gesellschaften wie EchoAches nun als Labor fĂĽr ihre Studien brauchen, um sich zu artikulieren, zu widersprechen, auszuloten, zu verbinden, damit sie eben nicht in die Falle tappen, das äuĂźere Geschehen in einfache Ăśbersetzungen zu bringen und in Redundanz, Variation und die daraus resultierende Apathie zu verschwinden. 

Wenn wir ĂĽber Musiktheater der Gegenwart sprechen, dann sprechen wir darĂĽber, ob wir das Spielfeld Gegenwart in Form eines wie auch immer gesetzten Narrativs bewusst vorgeben und somit auch begrenzen, ob wir Gegenwart geschehen lassen und den Dynamiken von An- und Abwesenheiten ihren Lauf lassen oder ob wir die Gegenwart kĂĽnstlerisch vermessen und als Spiegelbild der Auseinandersetzung definieren.

Alle drei Vorgehensweisen können zu vielfältigen Formaten fĂĽhren, die ebenso reflektierend wie trivial begleitend erscheinen können. 

Es ist nicht das Format, das Visionen verkörpert, es sind die Gesellschaften wie EchoAches, ein Korpus aus Voneinander-Schöpfenden, die die Visionen in Form von Schmerz in sich tragen. Und diese Vision sucht sich ihren Weg im Gegenwärtigen.

Kluge Was unterscheidet einen Hilfeschrei von einem Operngesang? Gibt es einen Unterschied?

Muntendorf Der Hilfeschrei macht heiser. 

Kluge Authentizität ist kein Idol der Oper?

Muntendorf Die Oper ist höflich, das ist wahrscheinlich ihr höfischer Hintergrund.

Kluge Wie wĂĽrden Sie Oper eigentlich definieren? Was ist das fĂĽr eine seltsame Sitte? Richard Wagner saĂź einmal vor Rossini und sagte: Es muĂź authentischer, wahrhaftiger sein, die Oper muĂź Wirklichkeitsgesangsein. Und Rossini sagte: Haben sie schon irgendwann einmal im praktischen Leben Menschen singen hören? Ist nicht auch etwas falsch an dem, was Rossini gesagt hat?

Muntendorf

Wir wollen ja die Realität verlieren, sie unmöglich machen, wenn wir Kunst erfahren. Das ist ja das wundervolle Moment, gerade im Theater, in der Performance und im Musiktheater – wenn sich plötzlich alles zu einer in diesem Moment entstehenden Logik verbindet, der wir herausgelöst aus allen uns umgebenden Kontexten folgen und uns verführen lassen können. Es geht eben nicht um einen „Wirklichkeitsgesang“, sondern darum, verlorenen Realitäten eine Stimme zu geben.

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 zwei Männer in der Betrachtung eines Käses 

Bild: Michael Feindura und Sören Grochau 

Quelle: https://www.saechsische.de/zwei-maenner-in-betrachtung-eines-kaeses-5067587.html

Interview/ Quelle: Alexander Kluge, „Schlacht um die Oper“ Christoph Schlingensief über den ERSTEN IMAGINÄREN OPERNFÜHRER auf dem LOVEPANGS-KONGRESS, Facts & Fakes 2/3, S.64 ff

Im Wechselspiel von Verwandtschaft und Referenz

„Making kin“ – „sich verwandt machen“. Donna Haraway, Biologin, Wissenschafts- und Geschlechterforscherin, entwirft in ihrem Buch „Staying with the trouble“ („Unruhig bleiben“) eine Gesellschaft von Zukunftswesen, die sich auf produktive und eigensinnige Art mit Tieren, Pflanzen, Korallen (den übrig gebliebenen) und Bakterien verwandt machen und der Herausbildung und Weiterentwicklung von Sinnesrezeptoren und Wahrnehmungsapparaten statt der Vermehrung folgen. Ihre zugleich gesellschaftspolitisch und ökologisch provokante wie revolutionäre These „Making kin. Not babies.“ basiert auf einem Verwandtschaftsbegriff im Sinne der Zugewandtheit (und nicht im Sinne der Familie), als individuell und kollektiv und quer zu regionalen und ideologischen Differenzen gelebte Verbindung zu anderen Daseinsformen.

In diesem Zusammenhang ist auch die britische Anthrpologin Marylin Strathern zu nennen, die den Wandel der Wortbedeutung von„relatives“ im britischen Englisch beschreibt: Wurde es im Sprachgebrauch bis zum Ende des 16.Jh. im Sinne von „logische Verbindung“ benutzt, als Abstammung des lateinischen Wortes „relativus“ – eine „Referenz haben oder in Relation stehend“, und vom lat. „relatus“ – Partizip Perfekt von â€žreferre“, d.h. „etwas zurĂĽckbringen, widerhallen“, in Englischen “to refer”, auf etwas verweisen, erfolgte im Laufe des 17.Jh die Eingrenzung Verwendung des Wortes fĂĽr „Familienmitglieder“.

Haraways Verwandtschaftsbegriff weist eine interessante Analogie zu den Charakteristiken heute entstehender Kunstformen, Netzwerke, Kommunikations- und Arbeitsmodelle in Folge der zunehmenden Durchdringung unseres Lebens und unserer Umwelt mit neuen Medien und Technologien auf: Differenzen werden hier nicht negiert, sie werden ausgelebt.

Die zeitgenössische Musik ist als Kunstform ebenso Teil dieser Durchdringung. Es muss als Selbstverständlichkeit gehandelt und verstanden werden, dass das Ausleben von Differenzen den Kompositions- wie Interpretationsbegriff kontinuierlich erweitert und transformiert. Es sind die dabei neu entstehenden Formate und Referenzen, „Besetzungen“ und ihre Wechselspiele mit realen wie digitalen Präsentationsräumen, die auf den Kompositionsbegriff zurückwirken und die bedingen, dass Musik als Kunstform den Herausforderungen unserer Zeit standhalten und wirken kann.

Daneben erwächst auch schlichtweg eine Neugier seitens der KomponistInnen und Performenden (bewusst nicht „InterpretInnen“, dieser Begriff impliziert eine Hierarchie, die heute in vielen Kompositionen bewusst aufgehoben wird) andere Konstellationen zwischen Idee und Instrumentarium (Instrument, Körper, Fähigkeiten, Persönlichkeit) auszuloten, zwischen Musik und anderen Formen und Verfahren der Kommunikation. Blicke ich auf meine Lehrtätigkeit an der Musikhochschule in Köln und der Praxis unserer lebendigen und Diversität einfordernden Lehrkultur, kann ich ein Lächeln beim Blick in das Studienbuch nicht verbergen, belehrt es mich doch, dass ich „Instrumentale Komposition“ unterrichte. Abgesehen davon, dass eine Änderung dieses Begriffs eine meiner ersten Amtshandlungen ist, beschreibt es das Problem, dem wir in Anbetracht der rasanten Entwicklungen der digitalen Revolution gegenüberstehen: Das Umdenken dauert überall dort lange, wo sich über Jahre und Jahrhunderte institutionelle, aber vor allem auch soziale Strukturen herausgebildet haben. Diese Strukturen sind Konsequenzen eines künstlerischen Verständnisses, einer Kultur und ihrer Sozialität. Die Hochschule, die Oper, die Philharmonie, das Museum, das Orchester sind Entäußerungen dieser Historie und es braucht zu allererst neue Anbindungen an diese Orte und temporäre Verschmelzungen mit unterschiedlichsten Strukturen, repräsentiert von einzelnen KünstlerInnen, Ensembles oder gemischten Kollektiven, die sich aus einem zeitgenössischen Denken über Musik derzeit herausbilden und mittels Residence-Konzepten (d.h. mittels eines auf Zeit und Ressourcen angelegten Antauschs) unterschiedlichste Impulse in eine Institution senden und von ihr empfangen können. In Deutschland beispielsweise gibt es erschreckend wenig Modelle für die Anbindung freier Kollektive an bestehende Institutionen. Es geht hierbei nicht ausschließlich darum, für jegliche Form transmedialer und interdisziplinärer Forschungen entsprechende Arbeitsbedingungen zu schaffen, es geht vor allem darum, es geht darum, an einer entscheidenden Stellschraube zu drehen: dem Begriff des sich-verwandt-machen, Music to kin.

Was fĂĽr ihre Infrastruktur gilt, ist der kĂĽnstlerischen Arbeit immanent:

Gegenwartsmusik inmitten von inter-, trans- oder postmedialen oder inter-, trans- oder multidisziplinäre Kontexten kann nur dann als relevante Kunstform im Sinne einer künstlerischen Setzung in diesen Kontexten bestehen, wenn sie sich mit dem Anderen (einer Technologie, einem Medium, einer Kunstform und den damit zusammenhängenden Verfahren und sozialen, politischen Implikationen) im Sinne Haraways verwandt macht.

Doch welcher Philosophie folgt eine solche Verwandtschaft?

  1. Verwandt machen meint in diesem Kontext, mit dem Fremden des Anderen und nicht mit dem offensichtlich Gemeinsamen des Anderen eine Beziehung einzugehen, um ein neues Ursächliches zu schaffen.

    Es kann kein neues Ursächliches geschaffen werden, wenn allein der „kleinste gemeinsame Nenner“ eine Verbindung dominiert, weil nicht die Gleichheit Diskurs, Transformation und Entwicklung evoziert, sondern die Differenz.

    Die Gleichheit bildet das Vertraute und ist somit rückwärts gewandt – im verwandt-machen mit der Differenz wird eine Utopie formuliert, d.h. hier beginnt überhaupt erst das Experiment. Das Verharren im kleinsten gemeinsamen Nenner lässt in Zusammenspiel von Musik, ihrer Erzeugung und ihrer Repräsentation in medialen Kontexten keine gegenseitige Durchdringung zu, sondern allenfalls Dekoration, eine Verzierung des einen mit dem anderen in variierender Redundanz.

  2. Das setzt wiederum voraus, dass man die Diversität aller in einer Komposition wirkenden Medien und ihrer Parameter in großer Selbstverständlichkeit als etwas Ganzheitliches betrachtet und sie als natürlich gegebene Möglichkeiten begreift, mittels physikalisch beschreibbarer Produktionstechniken (in diesem Falle die Komposition und ihre Mittel) etwas herzustellen, das keine physikalischen Eigenschaften hat:

    „Der Mensch verdankt seine menschliche Existenz der Möglichkeit zur Verwendung von Medien, denn weil es Medien gibt, lebt der Mensch nicht ausschließlich in der physischen Natur, sondern auch in einer Kultur.“
    Der deutsche Philosoph Lambert Wiesing beschreibt hier nicht nur, dass Medien ein Teil der Natur des animal symbolicum sind und die Selbst- und Weltbeziehung menschlicher Subjekte prägen. Mit der Überwindung der physischen Natur spielt er auch auf den Begriff des „Bildobjekts“[1] an, das im Gegensatz zum Bildträger (Rahmen, Papier, Monitor, Projektor) nicht den Gesetzen der Physik unterliegt, sondern eine Beziehung zwischen dem Betrachter und dem, was auf dem Bild zu sehen ist, definiert. Das Medium ist demnach eine Möglichkeit zur Überwindung der menschlichen Physis und ermöglicht das Werden von Kultur.

    Einen ähnlichen Gedanken scheint der Psychoanalytiker Christopher Bollas mit der Auffassung zu vertreten, das Internet sei „jetzt schon Teil des Stoffes (…), aus dem das eigene Sein besteht“.

    Weiter beschreiben Félix Guattari und Howard Slater eine postmediale Praxis als „vernetzte Praktiken leidenschaftlicher Individuen und Gruppen, die in lokalen und translokalen Kontexten arbeiten, intuitive Schnittstellen anritzen und Medien samt ihrerInhalte kritisch beäugen“ und führen dabei ein wichtiges Moment ein: Die Medien können, müssen sogar innerhalb solcher Prozesse mehr oder weniger täglich gewechselt werden.

    Wir brauchen dieses Selbstverständnis, dass Komposition heute bedeutet, den Forschungsgegenstand Musik und Klang divers zu gestalten und dass die dafĂĽr zur VerfĂĽgung stehenden Ressourcen gegebene Objekte der Auseinandersetzung sind, ebenso wie eine Saite auf einem Streichinstrument ein gegebenes Objekt der Auseinandersetzung darstellen kann. Dieses Selbstverständnis muss auch implizieren, in der Musik – wie in der bildenden Kunst – den Blick viel stärker auf individuelle kĂĽnstlerische Arbeit zu richten und nach Kriterien zu beurteilen, die von der Arbeit selbst definiert werden.
  1. Komponieren in Referenzsystemen. Ein Beispiel fĂĽr MUSIC TO KIN.

Referenzielle Systeme sind Beziehungssysteme.

Im Gegensatz zur Collage wohnt dem Referenzsystem eine immanente Flexibilität inne – es ist ein dynamisches System, in dem sich Bedeutungen immer wieder verschieben können.

Ein weiteres zentrales Kriterium fĂĽr Referentialität ist Performanz. In der Collage (von frz. coller = kleben, colle=Leim abstammend) ordnen sich die Bedeutungen der Einzelteile der Konstruktion einer neuen Wirklichkeit unter, teilweise werden ursprĂĽngliche Bedeutungen sogar komplett nivelliert zu Gunsten der Entstehung eines „neuen Ganzen“.  Das Ziel der Collage und der Montage ist immer das „neue Ganze“, der Ursprung liegt immer in Formen der Dekonstruktion und Fragmentierung. D.h. im Umkehrschluss auch, dass die Wirklichkeit (ursprĂĽngliche Bedeutung) der genutzten Fragmente in der Montagetechnik dekonstruiert werden und als Modifikation in der Neukonstruktion des Kunstwerks erscheinen.

Charles Ives 2. Symphonie oder der dritte Satz Berios Sinfonia zählen zu den populärsten Beispielen der Musikliteratur. Dabei werden musikalische Zitate in ein neues musikalisches Umfeld eingeordnet, dessen Stilistik die Einbettung prägt. Oder im Falle Berios bilden die Summe der Zitate unterschiedlichster Herkunft eine klangliche Überlagerung, die die Überlagerung selbst, die Erzeugung von Intransparenz und Gleichzeitigkeit thematisiert.

Adorno sei hier zumindest kurz geduldet: „Der Schein der Kunst (…) soll zerbrechen, indem das Werk buchstäblich, scheinlose TrĂĽmmer der Empirie in sich einläßt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.“[2]

„Die Konstruktion reißt die Elemente des Wirklichen aus ihrem primären Zusammenhang heraus und verändert sie soweit in sich, bis sie von sich aus abermals einer Einheit fähig werden, wie sie draußen hetreonom ihnen auferlegt ward und drinnen nicht weniger ihnen widerfährt.“

Die Collage trennt das Material von ihrem Ursprung – ein verwandt-machen mit dem Umfeld ist hierbei nicht möglich. Es entsteht zwar etwas „neues Ganzes“, aber als ein in sich geschlossenes System. In einem referentiellen System hingegen ist gerade die Aufrechterhaltung vorhandener Bedeutungen und das Verweisen auf Quellen Voraussetzung dafür, ein flexibles Netzwerk von Bedeutungen zu erstellen und neue Beziehungen zwischen einem Material mit und über die eigene Beschaffenheit hinaus einzugehen. Die Komplexität von Bedeutungen, die Verzahnung von Verweisen untereinander und zu anderen kulturellen, politischen oder sozialen Verhältnissen und somit die Gesamtheit der Kontextualisierungsmöglichkeiten gerade in den vorhandenen Bedeutungen sind dabei die ausschlaggebenden Kriterien. Felix Stalder führt diesen Gedanken noch weiter, in dem er schreibt:

„In ein und demselben Akt werden sowohl die eigene, neue Position als auch der Kontext, die kulturelle Tradition, die mit der eigenen Arbeit weitergeschrieben wird, performativ, das heißt durch das eigene Handeln im Moment, konstituiert.

Referenzielle Systeme sind Beziehungssysteme. Sie loten alle existierenden Beziehungen in einer künstlerischen Arbeit aus und bieten uns Möglichkeitsräume, in denen jede Entscheidung des Sich-Verortens, des bewussten Bezugnehmens, des Verweigerns, Intensivierens, Selektierens oder des Sichtbarmachen von Beziehungen. Referenzsysteme bieten uns Möglichkeitsräume, in denen jede Entscheidung eine Entscheidung darüber ist, was wir in einem künstlerischen Kontext gerade vermitteln möchten, wohin wir den Blick, worauf wir das Gehör richten wollen und womit wir uns verwandt machen möchten.

[1] Husserl: Das physische Bild ist das reale – also wahr­genommene – Objekt, z.B. der be­arbei­tete Marmor, die be­malte Lein­wand oder das be­druckte Papier – also das Re­präsen­tieren­de. Das Bild­objekt ist hin­gegen das­jenige, das man auf dem Bild sieht, kurz: die Re­präsen­tation

[2] Adorno, Theodor W: „Ästhetische Theorie“, S. 232

Komponieren in Referenzsystemen

<a href= “Ich sende, also bin ich. Ich bin nicht existentiell, ich bin performativ – Ich performe, also existiere ich. Unsichtbarkeit bedeutet das Nicht-Vorhandensein in dieser Welt. So bin ich sichtbar, unbedingt partizipativ, nachvollziehbar ĂĽber mein zugängliches Archiv, mein Körper als Laufbursche in dem von mir kreierten Modell, statt Mut zum Körper als BĂĽhne entwickle ich KalkĂĽl in der Konstruktion meines Abbilds, aber den Körper brauche ich natĂĽrlich auch, der Körper macht das alles „echt“, willkommen in meinem Netzwerk ICH, in meinem Medium der radikalen Mittelmäßigkeit, willkommen in der Performanz meiner Idee.“</a> 

#1 Kultur der Digitalität// I will start on Jupiter tonight

Wenn wir davon ausgehen, dass wir in einer Kultur der Digitalität leben, deren Verhandlungsraum die Durchdringung der physischen, geistigen und virtuellen Welt ist, dann befinden wir uns inmitten von nichtlinearen RĂĽckkopplungsprozessen zwischen diesen Räumen. Wir mĂĽssen also davon ausgehen, dass Entwicklungen vielleicht chaotisch, mit Sicherheit unkontrolliert und in jedem Fall reziprok stattfinden. 

An dieser Stelle beginnen die hier geäußerten Gedanken. Es sind Angebote, Möglichkeiten für eine künstlerische und musikalische Auseinandersetzung in Anbetracht einer selektiven, in keinem Fall vollständigen und in jedem Fall referentiellen Betrachtungsweise unserer digitalen Gegenwart.

#2 Digitale Revolution // You really think you’re in control?

Wir befinden uns mitten in der digitalen Revolution, mitten im größten technischen Fortschritt der Geschichte, der zwangsläufig neue Lebensrealitäten schafft. Wir befinden uns mitten in den Diskursen darĂĽber, ob wir mit der digitalen Revolution Demokratie etablieren können oder Rechtsextremismus und Populismus in allen möglichen Erscheinungsformen fördern. Wir nehmen an der digitalen Welt teil, optimieren, organisieren, unterhalten und bilden uns, verstecken uns im Deckmantel der Anonymität, leben Fantasien aus oder arbeiten mit ihr – wohlwissend, dass jede Aktivität unser digitales Datenabbild ein StĂĽck weit mehr vervollständigt, unsere Cookie-Leichen als Cyberzombies erwachen und unsere Identität auf dem Datenmarkt (und vielleicht nicht nur dort) verschachern. Der Aufwand, dem Netz zu sagen, was es nicht tun soll und die Bequemlichkeit der schnellen Teilhabe stehen in keinem Verhältnis zueinander. Kreativität und Selbstverwirklichung werden mittlerweile als VerfĂĽgbarkeiten deklariert und an oberster Stelle gehandelt, wenn es um den Vergleich sozialer Positionen und die ErschlieĂźung neuer Märkte geht.[1] Die digitale Revolution konfrontiert uns mit einer noch nicht dagewesenen Vehemenz mit BedĂĽrfnissen, die wir haben und jenen, die wir haben sollen.

#3 AI & Algorithmen // Plug it, play it, burn it, rip it, view it, code it, jam, unlock it!

Wir vertrauen Algorithmen nicht nur Sortierungs- und Auswertungsaufgaben an, sondern ĂĽbergeben ihnen immer mehr Kontrolle ĂĽber unser Handeln, Lieben, Wirtschaften und unsere Kreativität. Wir entwickeln sie zu eigenständigen Wesen, die auch im Kunstbereich schon längst nicht mehr nur etwas kopieren, sondern beginnen, selbst zu produzieren. AI (Artificial Intelligence) wird zum derzeitigen Stand der technologischen Möglichkeiten ĂĽber Generative Adversarial Networks (GANs) zum selbständigen Denken fĂĽr die Produktion von „Kunst“ programmiert. Fotorealistische Bilder, 3D-Modelle oder Bewegtbilder wie auch Musik können dabei ĂĽber das Kopieren bestehender kĂĽnstlerischer Stile, wie auch ĂĽber das neue Erlernen von „kĂĽnstlerischen Parametern“ erzeugt werden. Bekannte Beispiele aus der Musik sind die Software „Amper“ („an artificial intelligence composer, performer, and producer that empowers you to instantly create and customize original music for your content“) oder der 2010 an der Universität Málaga entwickelte Computer Cluster „Iamus“ (Komposition von Orchesterwerken mit fraktalen Strukturen). Walter Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit könnte infolgedessen mit der Bedeutung von Kunst im Zeitalter ihrer technischen Selbsterschaffung fortgefĂĽhrt werden. Wenn ein GAN OrchesterstĂĽcke oder in einigen Jahren transmediale BĂĽhnenperformances konzipiert, dann sollten wir KomponistInnen uns fragen, wie wir unsere Rolle als „Schaffende“ einnehmen wollen, wie wir Originalität definieren. Wir können uns mit AI verbinden und Teams bilden, wir können in den Wettbewerb treten und einen neuen Schöpfergenius schaffen, indem wir beginnen zu programmieren. Wir können uns mittels AI Avatare schaffen und anstelle von StĂĽcken Identitäten erfinden. Wir können die Bedeutung „Schaffen“ verschieben, Musik, AI und andere Kunstformen auf einer Metaebene „zusammenstellen“ und in Wechselwirkung treten lassen, wodurch das Referenzsystem eine neue Wertigkeit bekommt.  Betrachten wir jedoch die Parameter, denen AI fĂĽr die „Kunstproduktion“ folgen, mĂĽssen wir uns in jedem Fall warm anziehen: 

“Die bedeutendsten, die Erregung steigernden Merkmale der Ă„sthetik sind Neuheit, Ăśberraschung, Komplexität, Unklarheit und Rätselhaftigkeit. Diese Eigenschaften dĂĽrfen allerdings nur zu einem moderaten Level eintreten und nicht ins Extreme gehen. Zu wenig [von diesen Eigenschaften] wird als langweilig eingestuft – KĂĽnstliche Intelligenz muss Kunst schaffen, die originell ist, aber nicht zu originell.“ [2] AI ist somit der Inbegriff kreativer Gentrifizierung â€“ einverleiben kann sie sich im Prinzip alles, selbst Nietzsches Kreativitätskriterium, „man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ kann mittels eines Codes definiert sein. Was machen wir denn nun mit dem Kreativitätsbegriff? 

Donalds Winnicotts Beschreibung von Kreativität als „die Tönung der gesamten Haltung gegenĂĽber der äuĂźeren Realität“[3] wirft eine neue Frage auf, nämlich ob „Haltung“ nicht auch als ein Resultat aus Erfahrungen lernbar ist. Weiter sagt er jedoch: „Mehr als alles andere ist es die kreative Wahrnehmung, die dem Einzelnen das GefĂĽhl gibt, dass das Leben lebenswert ist.“ Kann eine Ansammlung von Codes uns vermitteln, dass unser Leben lebenswert ist? Kann sie uns ein „GefĂĽhl“ geben? An diesem Punkt bekommt interessanterweise etwas eine Bedeutung, dem im Schaffensprozess (nicht in der Rezeption) innerhalb der Neuen Musik immer etwas – ich nenne es mal – Ekel anhaftete: Emotionalität. GefĂĽhle. Sex. Wir können uns damit auf dieser Ebene auseinandersetzen. Wir können aber auch einfach den Strom abdrehen. 

#4 Information als hypothetische Behauptung // Let your mind control whats real

Wir wissen um die Macht der Bilder, wenn wir mit unseren Selektions- und Effizienzstrategien Informationen scannen oder teilen und sowohl Sprache wie Musik als Timeline-orientierte Kommunikationsformen unser Tempo limitieren. Wir wissen um die Resonanzprinzipien der Bewegtbilder, wenn wir uns die Aufmerksamkeit der anderen wĂĽnschen (optimale Dauer von Teasern und Trailern fĂĽr Konzerte oder neue StĂĽcke bei Facebook: 60-90 Sekunden, unter 30 Sekunden: Resonanzschwäche; Live-Videos: ab 15 Minuten Erreichung einer größeren Zuhörerschaft). 

Wir haben uns darauf geeinigt, dass Digitalität eine hypothetische Realität ist: kann sein, kann auch nicht sein. Wir sortieren Informationen nach vertrauenswĂĽrdigeren oder zweifelhaften Kontexten, wodurch eine Verschiebung vom Inhalt einer Information hin zur Bedeutung einer hypothetischen Behauptung in einem spezifischen Umfeld geschieht. 

Die immer bestehende Möglichkeit des Fakes zwingt uns dazu, nicht aus einem Vertrauen heraus zu handeln, sondern aus einer MutmaĂźung. (Der Begriff MutmaĂźung ist hier bewusst anstelle von Misstrauen zu verwenden, da Misstrauen nur das Verhandlungsfeld Vertrauen-Misstrauen eröffnet, MutmaĂźung hingegen schon die Akzeptanz von Realität als These impliziert.) Das bedeutet, dass unsere Leistung nicht nur in der Rezeption einer Information/hypothetischen Behauptung liegt, sondern im Schaffen von Zusammenhängen, von Referenzsystemen

#5 Fake und subjektive Ăśberzeugungen // …the answer isn’t for us

MutmaĂźung als Folge eines Kontrollverlustes in der Rezeption digitaler Informationen und die positive Umkehrung, d.h. die Interpretation unseres Selbst mittels kontrollierter Inszenierung begrĂĽnden das Spielfeld Fake und Reality. Komponisten wie Michael Beil begreifen dies als Zentrum der kompositorischen Auseinandersetzung (z.B. „Exit to Enter“, â€žBlack Jack“, „Sugar Water“) oder als Themenfeld in der Auseinandersetzung mit Medialität, wie in den Arbeiten von Simon Steen Andersens (z.B. „Inszenierte Nacht“), Alexander Schuberts (z.B.  â€žBlack Mirror“) oder meiner „Public Privacy“-Reihe, wie auch „#AsPresentAsPossible“ und hält ĂĽberdies auch in Festival-Themen oder Konzertprogrammen Einzug. 

Wenn das Wechselspiel von Fake und Reality aber bereits akzeptierte Setzung fĂĽr den Umgang mit Digitalität und Digitaler Kultur ist, dann bedeutet das, dass ein konkreter Kontext, ein spezifisches Referenzsystem und die konkrete Bedeutungsverschiebung im Mittelpunkt stehen können und nicht die GegenĂĽberstellung des Realen und des Fiktiven. Dass das Arbeiten mit Bedeutungen Musik immer als Teil einer wie auch immer gestalteten Inszenierung begreift, ist hier nicht Begleiterscheinung, sondern dezidiert Voraussetzung. Interessant wird es an dieser Stelle dann, wenn der essentielle Zustand des Kontrollverlustes oder des Kontrollierens nicht erzeugt, sondern Voraussetzung fĂĽr die Performanz einer Idee wird. Dabei können Rollenzuweisungen in StĂĽcken verhandelt und subjektive Ăśberzeugungen (“InterpretIn“, „PerformerIn“ und „RezipientIn“) gezielt manipuliert, vertauscht oder permutiert werden. 

#6 Existenz und Performanz // … it’s just me, myself and I

In Anlehnung an Gregory Batesons Definition von „Information“, beschreibt Felix Stalder den über die Information generierten Wert als den „Unterschied, der den Unterschied im Strom der Gleichwertigkeit und Bedeutungslosigkeit macht.“[4]

Die Priorisierung unserer Zeit, die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit auf etwas Konkretes und die bewusste Selektion â€“  begreifen wir als produktive Leistung unter Einsatz einer nicht vervielfältigbaren und begrenzten Ressource, unserer Lebenszeit. 

Im Netz existieren wir erst einmal nicht, wir sind per se unsichtbar und können Sichtbarkeit nur durch Performanz kreieren, durch das aktive Einschreiben in die Welt.

Aus „esse“ wird „inter-esse“, Identität wird zum Medium, „zur Schnittstelle zwischen virtuellen Erscheinungsformen eines Körpers und seinen potenziellen sozialen Rollen und Funktionen.“[5]

Nicht nur ĂĽber das Generieren von Inhalten geben wir uns eine Bedeutung, sondern ĂĽber das Generieren von Performanz. In dieser Inszenierungsspirale ist es nicht erstaunlich, dass 30 Prozent der jungen Menschen das BerĂĽhmtwerden als explizites Lebensziel definieren (vor 10 Jahren waren es 14 Prozent).[6] Man kann diese neue, in der Digitalität geltende Wechselwirkung zwischen „sein“ und „performen“ nicht abgelöst von dem gegenwärtigen Trend der Selbstoptimierung und Selbstmaximierung betrachten, ebenso wenig wie von der kapitalistisch motivierten Degradierung der Kreativität zur zweiten Natur des Menschen. [7]

#7 Performanz und Community // …If I have things you need to borrow…

Gleichzeitig evoziert die Digitale Revolution die Herausbildung neuer Gemeinschaftsmodelle im Spannungsfeld von Singularität und Diversität, deren Funktionsprinzipien innerhalb und auĂźerhalb der Netzwelt ihre Wirksamkeit beweisen. Wir bilden zwischen Arbeit, Freizeit, Interesse und BedĂĽrfnis anonym oder mittels unserer Identität Online-Communities auf allen erdenklichen Online-Plattformen. Wir kreieren neue Communities, indem wir unser Wissen und unsere Interessen im Netz teilen. Wir initiieren bewusst Gemeinschaften auf digitalen Plattformen fĂĽr die physische Zusammenkunft und ĂĽbersetzen netzinhärente Dynamiken von Gruppenbildung auf Organisationsstrukturen von Kollektiven in der Arbeitswelt. In der von Jean Lave und Étienne Wenger definierten Gemeinschaftsform Community of Practice[8] manifest sich, dass es weniger die homogenen Gemeinschaften sind, die sich heute herausbilden als jene, in denen die Produktion von Differenz und Gemeinsamkeit gleichzeitig stattfindet.[9]

Die Community of Practice ist als Gemeinschaftsmodell deshalb so spannend, weil sie ein dynamisches Praxisfeld beschreibt, an dessen Konstituierung alle Mitglieder beteiligt sind und demnach der gemeinsame Wissenserwerb, sowie der Austausch von Fertigkeiten, materiellen und sozialen Ressourcen und vor allem die gemeinsame reflexive Interpretation der eigenen Praxis im Vordergrund stehen. Autorität ist an das Wissens- und Erfahrungsniveau geknüpft und demnach ungleich verteilt, hängt sie doch an der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und jener der anderen ab. Wenn wir davon ausgehen, dass Referentialität in der kompositorischen Arbeit die Schnittstelle für einen neuen Kompositionsbegriff darstellt, dann könnte die Community of Practice das dazugehörige Gemeinschaftsmodell für eine Dialektik von Kreation und Interpretation sein.

#8 Referenzsysteme // …If you don’t use it, you’ll lose it

Als Digital Natives oder Digital Immigrants sind wir Zeugen davon, wie sich durch neue Technologien unser Kommunikationsverhalten verändert und wir je nach Plattform spezifische Umgangsformen, Codes und Normen etablieren. Wir kennen mittlerweile Hasstiraden, Fake-News, Shit- und Candystorms, Tutorials, Blogs, Viral-, Unboxing- und Haul-Videos. Wir arbeiten in und mit Kommunikationshybriden, wie intermediale Plattformen, Clouds, synchronisierte Hard- und Software, deren Vorbild nichts Geringeres als das menschliche Gehirn mit seiner Vernetzungs- und Assoziationsfähigkeit von Informationen ist.   Wir verweisen, teilen, liken und swipen, schaffen Bedeutung und konstituieren damit unser Dasein ebenso wie unser Archiv. Die digitale Revolution katalysiert das unentwegte Generieren von Referenzsystemen, in denen kulturelle, historische, politische und soziale Gegebenheiten in Beziehung gesetzt und Bedeutungen addiert werden. 

Das Wort „referre“ bedeutet „zurücktragen“ oder „zurückbringen“ mit dem impliziten Sinn von „in die Gegenwart bringen“, „vergegenwärtigen“ oder „berichten“ – im Zeitalter der Digitälität, in der wir viele Dinge durch das Netz überhaupt erst erfahren bevor wir ihnen in der Realität begegnen, stellt sich die Frage nach Zeitlichkeit und Plattform einer Referenz neu. Wir übertragen reale Gegebenheiten ins Netz und umgekehrt, weil wir das Ineinandergreifen des Realitäts-Virtualitätskontinuums längst als eine Einheit begreifen.

Die dabei entstehenden Kommunikationsformen können wir kompositorisch nutzen, ihre Strukturen ĂĽbersetzen und das Zusammenspiel von Publikum, Performer, Partizipation und Raum neu denken. All diese Kommunikationsformen werden sich kontinuierlich mit der Entwicklung der Technologien transformieren und weiterentwickeln, einige werden verschwinden, andere neu hinzukommen, wired and tired. Ganz gleich, ob anhand von Social Composing oder Reenactments, Mashups, Sampling, Story telling und Found Footage Collagen, anhand von trans- inter- oder multimedialen Settings der Verhandlungsspielraum definiert wird – es ist das Arbeiten in und mit Referenzsystemen, das zum „vorherrschenden produktionsästhetischen Modell in der zeitgenössischen Kunst geworden ist“[10] und das durch die digitale Revolution eine neue Dimension erfährt. 

#9 Referenzsysteme & Community // …Racket, bang, thump, Rattle, clang, crack, thud,  It’s music, Now dance

In der neuen Musik findet seit vielen Jahren eine kontinuierliche Entwicklung hin zu transmedialen, digitalen, theatralen und performativen Produktionsformen statt – Formen, die Referentialität in einem musikalischen Kontext ĂĽberhaupt erst ermöglichen. Parallel dazu verändern sich auch Arbeitsweise, Probenabläufe und Produktionsprozesse, was zwangsläufig auch zu Neukonfigurationen in der Infrastruktur und Zielsetzungen von Ensembles fĂĽhrt. Vergleicht man die oben beschriebene Community of Practice mit der Tatsache, dass nicht nur Klangregisseure, sondern immer häufiger auch Videotechniker, Schauspieler, Regisseure oder Performer feste Ensemblemitglieder sind oder fĂĽr Probenprozesse hinzugezogen werden – sofern die Musiker nicht schon selbst ihre performativen Qualitäten ausbauen[11] –  kann man die „Produktion von Differenz“ mit den unterschiedlichen Fähigkeiten der Mitglieder gleichsetzen. An dem Punkt der „reflexiven Interpretation“ der Community of Practice kann sich gerade fĂĽr den Schaffensprozess noch etwas Grundlegendes verändern: Wenn man Interpretation und Kreation als dialektische Einheit begreift entsteht die Notwendigkeit der Veränderung von Arbeitsprozessen im Komponieren. 

Nicht ohne Grund sind es die flexiblen kammermusikalischen und die ohnehin spartenverbindenden musiktheatralen Formate, in denen die sich heute am stärksten strukturelle Veränderungen in Produktionsprozess und somit auch in den entstehenden Arbeiten äuĂźern. Das musikalisch motivierte Referenzsystem als Forschungsgegenstand fĂĽr die kĂĽnstlerische Auseinandersetzung mit Kreation und Interpretation als symbiotisches Modell bietet hier KĂĽnstlerInnen wie Ensembles und Institutionen ungemein viele Möglichkeiten der Entfaltung und Profilierung. Ein Neudenken des Zusammenspiels auf kĂĽnstlerischer und struktureller Ebene gepaart mit der Deklaration, dass Intermedialität, Performance und Elektronik ebenso selbstverständlich und als unabdingbare Grundvoraussetzung fĂĽr eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart in der AuffĂĽhrungspraxis der zeitgenössischen Musik verankert werden wĂĽrde in sehr kurzer Zeit das musikalische Schaffen radikal verändern. 

#10 Statement // Isn’t the ending so much as the start

Das Leben und Ăśberleben, Schaffen und Kommunizieren innerhalb dieser Referenzsysteme erfordert etwas, das als Keimzelle aller Veränderungen der digitalen Revolution fungiert:  Es sind die Bedeutungsverschiebungen von Werten und Wertigkeiten, die aus den Veränderungen der Disposition von Individuum und Gemeinschaft, von Singularität und Diversität entstehen. 

Die Notwendigkeit der Sichtbarmachung des Individuums, d.h. im übertragenen Sinne einer kompositorischen Haltung, einer Sichtbarmachung des künstlerischen Apparates und der künstlerischen Idee und insbesondere der Sichtbarmachung des Dialogs mit dem rezipierenden Subjekt sind essentiell. In dieser Sichtbarmachung können wir endlich das Erleben von Gemeinschaftlichkeit und ihren Diskursen thematisieren.

In dieser Sichtbarmachung entscheidet sich, ob die Kommunikation gelingt oder scheitert, ob im Strom der Bedeutungslosigkeit und Gleichwertigkeit ein Unterschied gemacht werden kann.

#headlines:

1. Careful, where you hide; Asthmaboy 

2. Crazy; Gnarles Barkley

3. Pentatonix; Daft Punk

4. Fake or Real; Robot

5. So sorry; Feist

6. Me, Myself and I; G-Eazy x Bebe Rexha

7. Lean on me; Bill Withers

8. Use it or lose it; Vitalic

9. Cvalda; Björk

10. Let it die, Feist


[1] Brigitta Muntendorf & Michael Höppner: Kastriert Kapitalismus Kreativität? in „nmz“, 10/2017 anlässlich der Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrats zum Thema â€žWieviel Ă–konomie braucht die Musik?“

[2] Ahmed Elgammal, wissenschaftlicher Leiter der Studie „Art & AI Laboratory“ der Rutgers Universität in New Jersey zusammen mit „Facebooks Artificial Intelligence Lab“, veröffentlicht im MIT Technology Review Magazin. 

[3] Donald Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität. S. 78, Klett Cotta, Stuttgart 2006

[4] Felix Stalder, Kultur der Digitalität, S. 118 ff, Edition Suhrkamp, Berlin 2016

[5] Andreas Broeckmann: Sieben Exkurse zu den medialen KĂĽnsten. In: Mediale Kunst ZĂĽrich, Jahrbuch 1, ZĂĽrcher Hochschule der KĂĽnste, S.65 ff., ZĂĽrich 2007

[6] Lönneker & Imdahl rheingold salon im Auftrag des IKW — Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel e. V., 1.000 Befragte zwischen 14 und 21 Jahren im repräsentativen Online-Panel (2017).

[7] Siehe FuĂźnote 1

[8] Etienne Wenger, „Cultivating Communities of Practice: A Guide to Managing Knowledge“, Harvard Business School Press, Boston 2009

[9] Jeremy Gilbert, „Democracy and Collectivity in an Age of Individualism“, 2013, Pluto Books, London

[10] AndrĂ© Rottmann, „A Conversation with AndrĂ© Rottmann and John Knight.“ Dezember 2011, Los Angeles, in: John Knight, a work in situ, Frankfurt am Main: Portikus 2013

[11] Beispiele: Oper Lab Berlin, Ensemble Garage, Mosaik, Electronic ID oder Decoder Ensemble oder Frauke Aulbert, Julia Mihaly, Brigitta Muntendorf, Carola Schaal, Jagoda Szmytka, Malgorzata Walentynowicz

Zeitgenössische Musik und Kultur der Digitalität

Klangforum Wien, Agenda 2018/19. Über Zeitgenössische Musikproduktion in der Kultur der Digitalität (veröffentlicht am 18.09.2018) / about contemporary music productions within the digital condition (published 18.09.2018)

Museal oder vital  –  die Neue Musik entscheidet selbst 

Wenn ich die derzeitigen Verschiebungen im kĂĽnstlerischen Schaffen, in dem Verständnis von Interpretation und Ensemble, in der Rolle der Rezeption und Programmierung in der zeitgenössischen Musik denjenigen Verschiebungen gegenĂĽberstelle, die sich während der gerade stattfindenden digitalen Revolution in Gesellschaft und Kultur abspielen, dann steckt die Zeitgenössische Musik mitsamt ihren Apparaten noch in den Kinderschuhen. 

Wir befinden uns in einer Kultur der Digitalität[1], d.h. in der Durchdringung des Analogen, des Physischen und Materiellen mit digitalen Infrastrukturen. In dieser fundamentalen Wechselwirkung (in Anlehnung an die vier Grundkräfte der Physik) generiert der ungehinderte Transfer neue Arbeits-, Produktions- und Rezeptionsprozesse wie auch die immer wieder neu zu verhandelnde Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns. 

Referentialität als Kommunikationsform, die Herausbildung neuer Gemeinschaftsmodelle im Spannungsfeld von Singularität und Diversität und die konkrete Auseinandersetzung mit dem rezipierenden Subjekt als die Sichtbarmachung von Idee und Resonanz, sowie Algoritmizität bilden dabei die vier wichtigsten Spannungsfelder fĂĽr soziale und kulturelle Entwicklungen.  

Die Zukunft der Neuen Musik, ihre Relevanz in kĂĽnstlerischer und sozialer Bedeutung entscheidet sich daran, ob sie sich innerhalb oder auĂźerhalb dieser Prozesse verortet und ob Schaffende, Interpretierende und Fördernde bereit sind, bestehende Strukturen nicht nur zu erweitern, sondern grundlegend neu zu denken. Andernfalls liegt es auf der Hand, dass sie ihr Dasein als museale und kĂĽnstlich am Leben gehaltene Kunstform fristet, in der die innewohnende Widerständigkeit als höchste Form der Anpassung in einem kultivierten und abgeriegelten Diskurs ĂĽber Gesellschaft und Kultur erscheint.  

Komponieren in Referenzsystemen: Publikum und Performanz

Dass KomponistInnen und InterpretInnen, insbesondere der jüngeren Generation, heute zunehmend interdisziplinär, davon einige auch interaktiv und ein noch kleinerer Anteil kollektiv arbeiten, hat in der Neuen Musik noch immer singulären und phänomenologischen Charakter. Das ist daran erkennbar, dass die Einbeziehung von Elektronik, Projektionen, performativen Elementen, speziellen Bühnen- und Aufführungssituationen und die für die Realisierung benötigten Probenkapazitäten die Konfiguration von bestehenden Ensembles und ihrer Probenorganisation, wie auch die meisten Festivals in ihrer Ausstattung und Programmierung an strukturelle und finanzielle Grenzen stoßen lassen. Spannend ist dabei zu beobachten, wie KomponistInnen und Ensembles sich zunehmend Plattformen außerhalb der Neuen Musik Szene erschließen oder sich dadurch Abhilfe schaffen, dass eigene Produktionsstrukturen entwickelt werden.

GleichermaĂźen beschreibt die zu beobachtende Entwicklung hin zu transmedialen, digitalen, theatralen und performativen Produktionsformen ein kontextorientiertes Verständnis von Musik, das sich auf Basis von referentiellen Verfahren konstituiert. Referenzsysteme bestimmen unsere Kommunikation, sind die Strategie im Chaos unterschiedlich motivierter exorbitanter Bereitstellung von Informationen und manifestieren durch Selektion und Zusammenstellung, durch Komposition, sinnstiftende und vor allem gegenwärtige Bezugssysteme. Referenzsysteme sind das vorherrschende produktionsästhetisches Modell in der zeitgenössischen Kunst[2] und zeigen ihre Relevanz vor allem darin, dass das rezipierende Subjekt â€“ das Publikum – immanenter Bestandteil ist. Referentielle Kunst hat zur Bedingung, dass die Quellen und Bedeutungen, des gesamten kĂĽnstlerischen Apparates sichtbar gemacht werden – die Verortung in der Gegenwart und in Wechselwirkung mit Tradition und Kontext erzeugt somit Performanz.

Die massive Verschiebung in der Rollenzuschreibung von Autorenschaft und Publikum zeigt sich hier ganz deutlich. Das rezipierende Subjekt kann nicht mehr ignoriert werden, wenn die das Erleben der kollektiven Rezeption Performanz und Sichtbarmachung einer kĂĽnstlerischen Haltung voraussetzt.

Plädoyer für die Community of Practice

Wenn wir davon ausgehen, dass Referentialität in der kompositorischen Arbeit den Ansatz fĂĽr einen neuen Kompositionsbegriff darstellt, dann könnte die Community of Practice[3] in ihrem referentiellen, reflexiven und gemeinschaftlichen Ansatz das dazugehörige Arbeitsmodell darstellen. 

In der von Jean Lave und Étienne Wenger definierten Gemeinschaftsform manifest sich, dass es weniger die homogenen Gemeinschaften sind, die sich heute herausbilden als jene, in denen die Produktion von Differenz und Gemeinsamkeit gleichzeitig stattfindet.[4]

Die Community of Practice ist als Gemeinschaftsmodell fĂĽr die Kreation deshalb so spannend, weil sie ein dynamisches Praxisfeld beschreibt, in der Menschen mit unterschiedliche Fähigkeiten zugunsten eines definierten Zieles zusammenkommen und Kreation und reflexive Interpretation Hand in Hand gehen. FĂĽr die zeitgenössische Musik wĂĽrde ein solches Arbeitsmodell vielen derzeitigen Entwicklungen Raum fĂĽr Entfaltung bieten und die kĂĽnstlerische Qualität interdisziplinärer Arbeiten anheben. 

So bauen immer mehr MusikerInnen ihre performativen Qualitäten aus und kreieren spezifische BĂĽhnenpersönlichkeiten, deren Interpretation ĂĽber eine rein musikalische hinaus geht. Das Entwickeln und Implementieren dieser Fähigkeiten in einer wie auch immer zusammengesetzten Gemeinschaft angesichts eines definierten kĂĽnstlerischen Ziels kann in einer Community of Practice ihren Höhepunkt erreichen. Ein bestehendes Ensemble kann in der Einbeziehung von KomponistInnen und KĂĽnstlerInnen anderer Professionen die Community of Practice ebenso verkörpern, wie Gruppen, die sich hinsichtlich eines konkreten kĂĽnstlerischen Ziels formieren. Da sich eine solche Arbeitsweise nicht mit dem Standard von vier Proben, GP und Konzert realisieren lässt, braucht es Infrastrukturen, in denen längere Arbeitszeiträume mit benötigter Ausstattung möglich sind. Eine AnknĂĽpfung der Communities of Practice an bestehende Häuser, z.B. in Form von nationalen oder internationalen Residenzprogrammen könnte die produktiven Kräfte verbinden und Lebendigkeit und Gemeinschaftlichkeit im gegenwärtigen Schaffen kultivieren. Ebenso wĂĽrden dezidierte Grundförderungen fĂĽr Ensembles und andere Kollektive fĂĽr die Arbeit in Communities of Practice eine kĂĽnstlerische Selbstbestimmtheit im Umgang mit derzeitigen Problematiken innerhalb der Kunst und auch der Neuen Musik wie Postkolonialismus, Exotismus oder die Genderproblematik bewirken, deren Auseinandersetzung von innen heraus stattfinden kann. Der Punkt ist folgender: Wenn man sich als eine Community of Practice mit einem gemeinsamen Ziel begreift, dann ist der Weg dorthin einer, in dem die gemeinschaftliche Produktion von Diversität dem Charakter des Ausstellens grundlegend widerspricht. Wenn der Arbeitsprozess selbst schon ein gemeinschaftliches Happening ist, dann kann das Resultat kein Hierarchisches sein.

Wenn man das SpannungsgefĂĽge Referentialiät, Gemeinschaft, rezipierendes Subjekt und Algoritmizität auf seine Grundkräfte hin untersucht, dann sind es das Chaos der Informationen und das Herstellen von sozialer Bedeutung, die in Wechselwirkung treten. 

Die meisten Förderstrukturen im Bereich der zeitgenössischen Musik lassen Chaos (in Form des Unbekannten, als Arbeitsweise und Formierung, deren Output nicht bestimmbar ist) gar nicht erst zu. Ich behaupte sogar, dass Chaos als kreative Grundlage fĂĽr das lebendige Experiment im Schaffens- und Erarbeitungsprozess, sowie als struktureller Bestandteil von Festivals und Institutionen verhindert wird. Verhindernd wirkt dabei z.B. das institutionelle Aufrechterhalten von Schöpfermythen oder die Festlegung von Förderbedingungen, in denen Kunst und Musik von auĂźen auferlegt wird, sozialpolitische Aufgaben zu ĂĽbernehmen, ohne darauf zu vertrauen, dass KĂĽnstlerInnen denkende und reflektierende Individuen sind. Verhindernd wirkt auch, mittels aneinander gereihter UrauffĂĽhrungen eine Eventkultur aufrechtzuerhalten, die ergebnisorientiert „Produkt“ und Prozess komplett voneinander abkoppelt und von vorn herein eine Dialektik zwischen einem kĂĽnstlerischen Wert und seiner Kurzlebigkeit evoziert. Das sind Symptome einer leblosenKultur – und dabei bedeutet doch „cultura“, bzw. „colere“ genau das Gegenteil, nämlich „urbar machen“. 

Die digitale Revolution zeigt uns gerade, in welchem MaĂźe chaotische, nicht-lineare und reziproke Prozesse Kreativität, Produktivität, Gemeinschaftlichkeit, Resonanz und Lebendigkeit hervorbringen. Ob in der Neuen Musik lebendige, kollektive und dialogische Formate kĂĽnstlerisch und strukturell – wie in der Community of Practice – etabliert werden, bestimmt, ob wir zukĂĽnftig in einer vitalen und gegenwärtigen oder musealen, fĂĽr die Gegenwart irrelevanten Musikkultur agieren. 


[1] Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Edition Suhrkamp, Berlin 2016

[2] AndrĂ© Rottmann, „A Conversation with AndrĂ© Rottmann and John Knight.“ Dezember 2011, Los Angeles, in: John Knight, a work in situ, Frankfurt am Main: Portikus 2013

[3] Etienne Wenger, „Cultivating Communities of Practice: A Guide to Managing Knowledge“, Harvard Business School Press, Boston 2009

[4] Jeremy Gilbert, „Democracy and Collectivity in an Age of Individualism“, 2013, Pluto Books, London

Published in POSITIONEN, Issue 108 “Neuer Realismus”

Contemporary composition, in the artistic creative process, calls for contemporary communication models. The digital revolution that has taken place since the 1990s through knowledge-sharing and networking via social media platforms or digital reality enhancement is constantly changing our habits of communication. These rhizome-like, allusive communication structures fundamentally impact our perception and our society in the reality-virtuality continuum.

Affect through participation, communicate through sharing in mixed, permeable realities — these are the social platforms of the now real-digital spaces and their communication models within which interaction processes between information and social resonance are explored, discarded, lived, perceived as controlling or liberating, and used or abused. Out of these models important social and artistic questions have to be re-imagined such as the construction of identities and communities, or the definition of presence and attendance, the private and the public, and the possibilities of sensual experiences within digital artificiality.

Contemporary Communication Models

Social composing1 is located precisely in this mindset. It is a thinking and perceptive unit that searches for strategies of articulation in order to reflect on phenomena existing at the interface of real-digital communication models, to continue them, possibly to oppose them. Social composing is based on the intention of mediating through music and intermediacy — that is, radically placing the communicative ability of music in the center, to be able to trigger resonances in all those living in the virtuality-reality continuum.

The consequence of the creative process in social composing is acting with and within real-digital communication models which also means, for example, that the interplay between artist and user, between art and social resonance, is a constant subject of controversy. So far, composers have been asked if they write for or against an audience, for themselves or for others. Social composing eludes these categories. It requires a confrontation with the newly developed forms of communication in social media: the principle tweet / re-tweet and the idea of sharing and commenting, the principle of live chat, interactions in online communities or virtual reality in the presentation forms on Youtube, Youporn, & Co.

As a social composer, I designate composition strategies that deal with social media or social media-immanent communication models and, from them, generate their material. Does this mean I compose in a social environment rather than an “asocial” desk? More or less. There are two basic approaches to social composing as well as social media art. Both approaches are similar in that they can only arise with the internet and online platforms but differ in their work processes. Both forms also share the idea that this organism of work in or with such communication models is intermedial.

One approach involves compositions that use social media as compositional material where the composition process takes place separately from the source, the digital platforms. What is important, however, is that the composition strategy incorporates social media into intrinsic communication models.2 If this approach brings a social media phenomenon into a coherent musical form, for example, audio distortions from live streams that are mapped musically, the phenomenon of reproduction transmitted audio-visually as a context-detached element, etc., then these are works about social media. Neither operate with communication models so, therefore, do not count as social composing.

In the second approach to social composing, the composition process takes place directly on the social platforms so that dialogue becomes part of the work. Extreme forms culminate in user-generated content such as Bicycle Built For 2000, an audio collage initiated by Aaron Koblin and Daniel Massey who called on Amazons Mechanical Turk Webservice workers from seventy-one countries to re- enact the computer-simulated song Daisy Bell.3 Also, the project Crowdsound by Brendan Ferris is to be located here as a prototype4, in which users determine the course of a song or text by voting. The most prominent representative of social composing in the digital space is the virtual pop diva Hatsune Miku who is kept alive with her fans’ songs and has conquered both social media and real concert halls.

Are we ready for social composing?

It is not surprising that the most prominent examples of the second form of social composing are to be found in the commercial realm. For new music, this way of working — regardless of the public idea of these examples — means new profiles of performers, new work methods, and “sideshow exhibits” to create performances. Unless the long-awaited change toward open, mobile, transformation-capable and genre-connecting performance venues begins, or the composition itself opens the place to the outside, concert halls, as they exist now, are closed spaces, the worst possible venue for social composing concepts. At least through their structure, festivals offer the possibility of exchange, but here, too, the new communication models quickly come up against spatial boundaries. The most suitable place is the net itself, preferably with a projection screen in the real world.

Links to new music are where this becomes an artistic confrontation and a fragile corpus: the most important instrument of new music in connection with social composing is not the performative object (trumpet, violin, synthesizer, video, electronics, etc.) — the most important instrument, simultaneously also the most historically and socially influenced, is the performer. While visual artists can freely choose their instruments and, thus, also choose existing connotations of a cultural or social kind, composers are confronted with professional musicians or ensembles, whose meaning in most cases is the presentation of trained perfection, virtuosity in the game, in short: history has shaped this perfection into profession. In order to be able to use these skills in social composing, however, the inherent performance of real-digital communication models has to be added. This is reflected, for example, in the shift of complexity and virtuosity from a purely musical game toward a complexity and virtuosity of meanings, from processes and spaces to the use of musicians as part of a mechanism, as triggers of time-controlled processes. Consequences of this — as in social networks or extended realities — are the disappearance of man behind the instrument for the purpose of its functionality and the maintenance of the “human” in corporeal form, the obscuration and amplification of an experience through identification and, consequently, multiplication of one’s own circle of perception.

“If men define situations as real, they are real in their consequences” reads the famous theorem of the American sociologists W. I. and D. S. Thomas5 from 1928 with regard to the investigation of paranoid behavior, which today also applies to digital communication models. In the complexity of such an uncontrollable and inconsistent present, countless spaces are created for subjective realities, whether from a need of the individual or from the given possibilities. The attempt to preserve real objectivity, if at all possible, is not entirely abandoned but it seems to be always less interesting, its reality with the “Yes Network” (the network does not contradict, it only reproduces one’s own perceptual horizon) to create itself. Social composing as a strategy can set impulses for the visualization and concentration of perceptions — and make a contribution to the fact that, through its communication model, new music finds its way into society.


1 See my article: Anleitung zur künstlerischen Arbeit mit der Gegenwart in: Zurück zu Gegenwart? Weltbezüge in Neuer Musik, ed. v. Jörn Peter Hiekel, publisher of the INMM Darmstadt, Volume 55, Schott: Mainz p. 62.

2 Examples: the first pieces of my series Public Privacy (#flute cover, #piano cover, #trumpet cover, #trombone cover), which started in 2013; Sergej Maingardt, It’s Britney Bitch (2013); Richmond & Chladil, Overheard 2008-2010); Example of a social media performance: Keiner,

Brandrup, Seeman, Public is the new Private (2012), Info: http://www.publicisthenewprivate.com (last accessed 15.07.2016).

3 The song composed by Harry Dacre in 1892 only became known sixty years later. John Kelly, Max Matthews, Carol Lockbaum sourced it in 1962 for the use of musical speech synthesis. http://www.bicyclebuiltfortwothousand.com (last accessed 15.07.2016).

4 Ferris pursues the non-artistic intention of using this kind of composition to meet the palate of the masses – the result is an interchangeable musical “fabric softener.” The concept could be highly interesting by choosing other musical parameters.

5 William I. Thomas, Dorothy S. Thomas, The Child in America: Behavior Problems and Programs, Knopf 1928.

Essay erschienen in: „Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in Neuer Musik“, ed. Jörn Peter Hiekel, Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 55 (Mainz u.a.: Schott, 2015)

1. Akzeptieren.
Der Tribut der Gegenwart.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen ist gerade für Komponisten/innen eine nicht besonders attraktive Angelegenheit. Im Gegensatz zur bildenden Kunst ist unser Instrumentarium ein weitestgehend Historisches und die Musik etwas Abstraktes. Allein mit Musik einen gesellschaftskritischen oder gesellschaftsreflektierenden Standpunkt einzunehmen ist vergleichbar mit der Aufgabe, ein Foto mit gleichen Attributen mit den Ohren wahrzunehmen.

Doch nichts ist unmöglich und auch in diesem Fall gibt es Mittel und Wege, als Komponist/in in den Ring der Gegenwart zu steigen. Die Gegenwart heute ist eine andere als die Gegenwart zu Zeiten von Hanns Eisler, Kurt Weill, Nam June Paik oder Luigi Nono. Heute sind diese Komponisten Teil der Geschichte und somit sind auch ihre Klang- und Kunstsprache Teil der Geschichte und können nicht einfach als Modelle fĂĽr ein Komponieren mit der Gegenwart verwendet werden – es sei denn, man möchte auf die jeweilige Klangsprache dezidiert verweisen. Die Vergangenheit prägt die Gegenwart und die Gegenwart prägt das ZukĂĽnftige – das sind drei Sprachen, denen allesamt etwas gemein ist – sie sind nur temporär gegenwärtig und ob sie ihre Zeit ĂĽberdauern oder ihr voraus sind, kann erst im Nachhinein erörtert werden.

Das Arbeiten mit der Gegenwart bedeutet, ein in der Gegenwart existierendes Phänomen in den künstlerischen Prozess zu integrieren.
Allein diese erforderte kompositorische Mobilität verwehrt all jenen Komponisten/innen den Zugang zur Gegenwart, die mit festen Modellen arbeiten oder deren alleiniges Interesse in rein musikalischen Parametern liegt, wie z.B. in Instrumentation, Rhythmus oder Klangarchitektonik. Das Arbeiten mit der Gegenwart bedeutet des Weiteren, dieses im künstlerischen, bzw. kompositorischen Prozess integrierte Phänomen in einem beliebigen Kontext sicht- und/oder hörbar zu machen. Die Rolle der Musiker, des Erklingenden und der Kompositionsästhetik muss demnach grundsätzlich und zusätzlich zum musikalischen in einem kontextorientierten Denken bestimmt werden – Parameter, die dann entscheidend werden und Bedeutungen erhalten, wenn neben die Musik die Message tritt.

Denn was nutzt es, sich heute mit einem gegenwärtigen Thema oder Phänomen auseinanderzusetzen, wenn es nicht vermittelt werden kann?
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, die Gegenwart in das Komponieren zu integrieren und somit gegenwärtig zu komponieren. Es gibt aber auch viele Fallgruben, die sich im Schaffensprozess öffnen und nur über die Brücke der Gegenwart geschlossen werden können. Denn jegliches gegenwärtiges Komponieren, seien die Klänge noch so „neu“, Themen z.B. politischer Art noch so aktuell, zugrunde liegende gesellschaftliche Phänomene noch so prägend – jegliches gegenwärtige Komponieren scheitert dann an der Gegenwart, wenn das Kommunikationsmodell nicht aus ihr generiert wird. Denn das Kommunikationsmodell, die Art und Weise, wie und in welcher Form eine Botschaft vermittelt wird, ist die einzige sicht- und hörbare Schnittstelle zwischen Kunst und Gegenwart. Und zugleich das relevanteste Merkmal zur Unterscheidung jetziger und vergangener Gegenwärtigkeiten.

Ein altes Kommunikationsmodell bleibt ein altes Kommunikationsmodell, ganz gleich wie brisant oder neu das zugrundeliegende Material oder Themenfelder sind.

1.2. Wahrnehmen.
Über die Schlüsselfunktion gegenwärtiger Kommunikationsmodelle

Die Voraussetzung fĂĽr die Vermittlung einer rein musikalischen oder inhaltlichen Message ist ein funktionierendes Kommunikationsmodell zwischen musikalischen Setup und Rezipient. Musik ist Kommunikation. Wie konkret sich diese Kommunikation zwischen Urheber und Rezipient gestaltet kann frei bestimmt werden, jedoch ist es wichtig, ein Bewusstsein dafĂĽr zu entwickeln, dass eine wie auch immer geartete Kommunikation stattfindet.

Das Kommunikationsmodell in einem musikalischen Setup ist der Schlüssel zur Gegenwart. Die Geschichte der Neuen Musik ist eine Geschichte über die Suche nach dem Neuen in der Musik, nach neuen Klangmöglichkeiten, neuen Formen und Systemen. Diese Suche ist jedoch inzwischen an und für sich nicht mehr gegenwärtig, sondern ein aus der Entstehung Neuer Musik entsprungener, selbstverständlicher, fortspinnender Prozess. Gegenwärtiges Komponieren jedoch bedeutet, ein in der Gegenwart existierendes Phänomen in den künstlerischen Prozess zu integrieren. Die in Bezug auf Kommunikation und Vernetzungsstrukturen existierende reiche Vielzahl von Möglichkeiten bestimmt maßgebend die Kommunikation unserer heutigen Gesellschaft. Die darin immanenten Mechanismen müssen sich auch in der Kunst wiederfinden, um Notwendigkeiten zu vermitteln. Dieser Aspekt wurde lange Zeit in der Neuen Musik außen vor gelassen. Es dominierte die Vorstellung des unantastbaren und über den Rezipienten erhabenen Schöpfers. Eine Vorstellung, die zeitlich auch ihre Notwendigkeit hatte, um Neue Musik überhaupt als eigenständige Kunstform zu etablieren und ihr mit aller Kraft einen Raum zu schaffen. Jedoch hat sich die Neue Musik inzwischen als Kunstform etabliert. Man findet sie in Opernspielplänen und Philharmonieprogrammen ebenso wie in unabhängigen Spielstätten und Vermittlungsprojekten. Dennoch wissen viele Menschen aus dem Bildungsbürgertum nicht, was es mit Neuer Musik auf sich hat und im Vergleich zum Wissen über Moderne Kunst befindet sich ihr Präsenzgrad meist sehr weit unten auf der Skala. Es ist offensichtlich, dass es ein Kommunikationsproblem gibt. Und dieses Kommunikationsproblem liegt weniger in der Vermittlung von Neuer Musik, als vielmehr im Kompositionsprozess selbst auf Seiten der Schaffenden.

Gegenwärtiges Komponieren bedeutet, gegenwärtige Kommunikationsmechanismen und Modelle musikalisch zu reflektieren. Das Internet hielt in den 90ern Einzug in die Gesellschaft und verkündete die Digitale Revolution, Vernetzung und Wissensteilung fanden ein Ballungszentrum und mit den seit 2003 neu hinzugekommenen Social Media Plattformen begann eine neue Ära der sozialen Kommunikation. Die kontinuierlich entstehenden Kommunikationsmodelle über Email, Twitter, Facebook, Youtube, Skype, Instagram, Foren und andere Plattformen sind neue Entwicklungen, die unser Kommunikationsverhalten grundlegend verändern und die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Urheber und Rezipient, zwischen Individuum und Gesellschaft permanent verschieben. Musik als Kommunikationsform bietet Komponisten/innen dementsprechend die Möglichkeit, an diesen Veränderungen zu partizipieren und verschiedenste Aspekte dieser Kommunikationsveränderungen musikalisch zu konvertieren.

1.3 Auseinandersetzen.
Die Crux des klanglichen Inhalts-Alphabetes

Die von vielen Musikschaffenden noch immer verwendete Methode, Klänge mit einem konkreten Inhalt zu belegen und darüber eine Art Alphabet von Inhalten zu kreieren erscheint in Anbetracht der Fülle, Vielzahl und Offenheit heutiger Kommunikationsmodelle veraltet und obsolet.

Wenn ein Klang, eine musikalischen Struktur, eine Melodie oder ein Geräusch in einem rein musikalischen Kontext mit einem Inhalt, einer konkreten Message belegt wird, die sich nur über den Text im Programmheft entschlüsselt, dann ist das allenfalls für den/die Komponisten/in relevant. Die Zuhörer werden letztlich betrogen, da solch wichtige Mitteilungen eben auf einem A4-Zettel am Eingang oder auf dem Sitzplatz statt auf der Bühne zu finden sind. Wenn man konsequent mit der Mitteilung umgehen würde, müsste diese während der Aufführung auf eine Leinwand projiziert werden. Dann wissen alle, dass der gerade gehörte Schlag mit der Hand auf die Snare die Ohrfeige symbolisiert, die Lukas Podolski in der WM-Qualifikation 2009 Mannschafts- Kapitän Michael Ballack gab. Und falls die Relevanz einer Projektion nicht vorhanden ist, dann besteht auch keine Notwendigkeit, einen solchen Inhalt in eine Musik zu legen.

Das Nicht-Hörbare und Nicht-Sichtbare eines Inhalts, einer Message in einem musikalischen Kontext, entzieht dem Inhalt, der Message die Daseinsberechtigung.

Während der Übersetzung in Musik, Klang, Rhythmus, Melodie geschieht eine vollständige Transformation und Verschlüsselung des Inhaltes, die diesen bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und somit eine inhaltliche Kommunikation mit dem Rezipienten unmöglich macht.

Natürlich kann diese Methode als Übermittlung einer „privaten Botschaft“ an einen eingeweihten Adressaten eingesetzt werden. Als Vorbild könnte hier z. B. Alban Berg dienen, der seine Dreiecksbeziehung zu Hanna und Helene in Form von zugeteilten Motiven in der lyrischen Suite aufarbeitete. Jedoch ist diese Message hier ganz eindeutig Subtext und nicht zentrale Botschaft. Ein Subtext, d.h. zusätzliche Kontextualisierungen, die als Randerscheinungen ein Werk umgeben, dient nur dazu, den Kontextraum der zentralen Botschaft zu erweitern und kann die zentrale Botschaft und ihr Kommunikationsmodell nicht ersetzen.

Zumindest nicht in unser Gegenwart in Deutschland, Ă–sterreich, in Europa, in Kannada, den USA und vielen anderen Orten, an denen Kommunikationsfreiheit gegeben und diese Offenheit gleichzeitig auch eine Weiterentwicklung der Kommunikationsmechanismen provoziert. Die Gegenwart und somit auch die Kommunikationsfreiheit in beispielsweise Syrien, im Iran, in Russland, sogar in der TĂĽrkei ist jedoch eine andere, auch wenn sie gleichzeitig stattfindet.

Zur Zeit des russischen Formalismus hat es fĂĽr Dmitri Schostakowitsch nur eine Chance gegeben, politischen Widerstand zu leisten und dabei sein Leben nicht zu gefährden – indem er sich gerade die Abstraktheit der Musik fĂĽr Botschaften zu Nutze machte, wie es z.B. im letzten Satz der 5. Sinfonie der Fall ist.

Somit stellt sich die Frage, ob eine Art klangliches Inhalts-Alphabet in Ländern und Räumen ohne freie Kommunikationsmöglichkeiten gegenwärtig wäre. Natürlich – weil in diesem Fall die Verschlüsselung „Inhalt gleich Klang“ ein Kommunikationscode repräsentiert, der Botschaften trotz Repression an bestimmte Adressaten vermitteln kann und Kommunikation ermöglicht.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass es nicht nur eine Gegenwart und eine Form gegenwärtigen Komponierens gibt, da wir an verschiedenen Orten verschiedenen Kommunikationsmechanismen und –möglichkeiten begegnen. Gegenwärtiges Komponieren bedeutet immer, sich mit dem jeweils vorhandenen Kommunikationsmechanismen auseinanderzusetzen und aus ihnen heraus über die Bedeutung von Musik und Botschaft nachzudenken.

2. Wieder Akzeptieren. Transformieren.
Die Inkonsistenz und Vergänglichkeit der Gegenwart als Befreiung begreifen.

Ist diese Hürde genommen, ein Konzept gefunden und Abstraktion und Botschaft in ein dialektisches Verhältnis gebracht, hat die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart für Komponisten/innen jedoch immer noch unattraktive Züge. Noch weniger attraktiv gestaltet sich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem möglichen Zukünftigen, da sie nicht nur das schwierige Unterfangen eines Verständnisses der Gegenwart bewältigt wissen will, sondern auch noch Zukunftsprognosen verlangt, die im besten Falle zutreffen sollten.

Die Unattraktivität einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart liegt für viele Komponisten/innen in der Instabilität und Inkonsistenz des Gegenwärtigen begründet. Instabilität und Inkonsistenz zwingen den mit der Gegenwart agierenden Kunstschaffenden, sich ihr anzupassen und somit auch negativ konnotierte Eigenschaften wie Flüchtigkeit, Banalität oder Oberflächlichkeit als mögliche Parameter zu berücksichtigen und in Kauf zu nehmen. Er muss bereit sein, die Inkonsistenz und das Vergängliche der Gegenwart als Material und Prozess zu begreifen und er muss bereit sein, sich diesem Prozess auszuliefern.

Komponisten/innen, die mit einem mehr oder weniger festgelegten harmonischen, rhythmischen, materialorientierten oder konzeptuellen System arbeiten, müssen ihre kompositorischen Strategien von Werk zu Werk nicht verändern. Bei ihnen besteht die Arbeit darin, die vorhandene Strategie in Form von Variationen, Abwandlungen oder Erweiterungen zu manifestieren.

Komponisten/innen, die mit gegenwärtigen Phänomenen und somit auch mit einer mehr oder weniger konkreten Message arbeiten, sind hingegen mit einer ständigen Erneuerung von Kompositionsmodell und Strategie in Hinblick auf alle Parameter wie Material, Anordnung, Wechselwirkung, Form und Rolle der Instrumente und des zu Erklingenden konfrontiert – eine zutiefst unökonomische Herangehensweise. Die ĂĽber das rein Akustische hinausgehende Bedeutungszuordnung verlangt eine zusätzliche Auseinandersetzung und abhängig von dem jeweiligen Setup und/oder der jeweiligen Message mĂĽssen auch neue Notationsformen entwickelt oder evtl. die naheliegende intermediale Anordnung in Betracht gezogen werden. Das sowieso schon verglichen mit anderen Kunstformen langwierige Unterfangen Musik zum Erklingen zum bringen wird immens strapaziert. Und in diesem ganzen Konstruktionsprozess kann es jederzeit passieren, dass sich die Gegenwart verändert und gewähltes Material, Technologien, Plattformen und Kommunikationsmodelle plötzlich als passĂ©, als out, als Schnee von gestern tituliert werden, weil neue Technologien und neue gesellschaftspolitische Themen auftauchen oder ein soziales Netzwerk mit einem Kommunikationsmodell durch ein anderes mit einem anderen Kommunikationsmodell ersetzt wird. In der Musikgeschichte begegnet man z. B. hinsichtlich der Technologien immer wieder solchen Beispielen, wie bei Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur oder Pierre Schaeffer, die mit neuesten Technologien der elektronischen Klangerzeugung arbeiteten und Magnettonbändern als Speichermedium verwendeten. Diese werden jedoch in der heutigen Zeit nicht mehr hergestellt und erfordern eine Digitalisierung, um weitere AuffĂĽhrungen zu ermöglichen. Aber auch StĂĽcke die in den letzten Jahren mit Hilfe von open Source Programmen entstanden sind, benötigen immer wieder eine GeneralĂĽberholung zugrunde liegender Patches oder anderer Programmierungsformen, weil Software weiterentwickelt und immer wieder Probleme der Kompatibilität auftauchen.

Gegenwärtiges Komponieren bedeutet, sich auf die Inkonsistenz und Vergänglichkeit der Gegenwart einzulassen und sich als ein in der Gegenwart denkendes und agierendes Wesen mit allen Möglichkeiten und Unvollkommenheiten auseinanderzusetzen. Und in diesem Prozess geschieht eine wundersame Verwandlung: Der Komponist oder die Komponistin entfernt sich in dieser Arbeitsweise automatisch von dem noch immer existierenden Bild des allwissenden Schöpfers und dessen „Meisterwerk“. An diese Stelle tritt etwas sehr Wertvolles, das in der Neuen Musik lange Zeit keine Daseinsberechtigung hatte – die Intuition und das Gespür für Notwendigkeiten. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und das künstlerische Arbeiten mit und in der Gegenwart als Möglichkeit für die Auflösung von Hierarchien begreifen, die Material und musikalischen Strukturen in der Vergangenheit zugeordnet wurden. Wenn eine Auseinandersetzung mit einem Kommunikationsmodell einen zentralen Stellenwert im Kompositionsprozess erhält, macht es keinen Unterschied, ob das Material von dem Urheber selbst, von Britney Spears, aus der Meditationsmusik Sri Sri Ravi Shankars, von Mozart oder aus dem Alltag stammt. Es geht allein darum, welche Kommunikationsfähigkeit mit diesem Material in einem Stück erreicht werden kann und mit welchen Fähigkeiten künstlerischen Gespürs und Intuition hinsichtlich einer Musikalität im weitesten Sinne dieses umgesetzt werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um E oder U Material handelt oder ob die entstehende musikalische Struktur komplex oder simpel ist – wenn das Material so verwendet wird, dass die intendierte Botschaft vermittelt werden kann, dann ist es für diesen Versuch das richtige Material gewesen, für einen anderen wird es das vielleicht nicht sein.

2.1 Motivieren und Ziele definieren.
Das Unmögliche möglich machen – über die Verifizierung gegenwärtiger Quellen

Die Inkonsistenz der Gegenwart besteht aber auch darin, dass einer reflektierten Beobachtung immer die Unmöglichkeit der Wahrung einer zeitlicher Distanz im Wege steht. Die Relevanz und Tragweite heutiger Ereignisse und Phänomene lassen sich aus der Gegenwart heraus nur schwer erkennen und einschätzen. Das Filtersytem der Gegenwart ist ein dynamisches, in dem sich Wertigkeiten kontinuierlich verschieben und eine historische Verifizierung noch nicht stattfinden kann.

Wenn man sich als Künstler/in oder Komponist/in in einer Arbeit auf eine historisch verifizierte Quelle stützt (z.B. auf ein Gedicht von Shakespeare oder ein politisches Ereignis), dann bedarf es keiner künstlerischen Rechtfertigung in Hinblick darauf, ob das Material historisch und somit auch im Rahmen einer künstlerischen Nutzung verifiziert ist. Die Eigenschaft verifizierter Quellen besteht darin, dass sie historisch bewiesen sind, indem sie ihre Entstehungszeit überdauert haben. Diese Überdauerung kann sehr vielfältig sein – das Ereignis oder das Werk kann abgelöst vom Urheber eine Eigendynamik entwickelt haben, ebenso kann die verifizierte Quelle durch Personifizierung überdauert haben oder sie wurde zu einem späteren Zeitpunkt nachträglich verifiziert, weil sie ihrer Zeit voraus war. In allen drei Fällen braucht es die Öffentlichkeit, die eine Quelle verifiziert, was im Extremfall dazu führt, dass z.B. ein

Kunstwerk als Meisterwerk deklariert wird.1 Die in der Neuen Musik oftmals anzutreffende Haltung, dass „das Publikum egal ist“ wird allein durch diesen Vorgang widerlegt. Das Publikum, die Rezipienten sind nicht egal, es sind schlieĂźlich die Adressaten und Resonanzkörper. Es mag uninteressant sein, ob ihnen ein StĂĽck gefällt oder nicht, sie mögen Gehörtes und Gesehenes fehleinschätzen oder auch irrtĂĽmlich in den Himmel loben – das ist menschlich und unvollkommen, aber ändert nichts an der Tatsache, dass man sich als Komponist/in und KĂĽnstler/in immer bemĂĽhen sollte, die Botschaft und Notwendigkeit, aus der das StĂĽck heraus entstanden ist, so klar wie möglich zu definieren und zu vermitteln.

Erstaunlicherweise wirken verifizierte Quellen auf gegenwärtig geschaffene Kunstwerke zurück und verifizieren dann das neu entstandene Kunstwerk. Diese Verifizierungsreaktionen sollten grundsätzlich kritischer in Augenschein genommen und es sollte unterschieden werden, ob das neu entstandene Werk in Blick auf z. B. Rückwirkung und Innovation einen Verweis auf die Gegenwart enthält und den Blick auf diese verändert (und neue, gegenwärtige Verifizierungen auslösen könnte) oder ob es sich der Gattung „In Memorial of“ anschließt. Dabei ist weder das eine besser noch das andere schlechter. Es wird allerdings oft genug das Einschüchternde verifizierter Quellen als Deckmantel genutzt, sich der Frage nach dem tatsächlichen künstlerischen Bezug und eines Werkes zur heutigen Zeit und der Frage nach dem Kommunikationsmodell zu entziehen.

Die Ignoranz eines Künstlers oder einer Künstlerin liegt nicht darin, dass es für ihn oder sie keine Rolle spielt, ob ein Stück gefällt oder nicht. Die eigentliche Ignoranz liegt darin, dass oftmals erwartet wird, dass dieser Verweis zur Gegenwart allein im Menschen selbst entstehen müsse, wenn der Verweis als solcher im „Werk“ nicht immanent ist. Diese Haltung reicht nicht aus, um die Wirklichkeit zu verändern, um sie unmöglich zu machen – denn das ist der Auftrag der Kunst.

Wir können uns immer auf verifizierte Quellen verlassen, denn wir verlassen uns darauf, dass die Geschichte als solche „wahr“ ist und dass sie sich nicht beweisen braucht. Folglich bedeutet die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart eine künstlerische Auseinandersetzung mit nicht verifizierten Quellen. Wenn ich ein Stück mit aus Youtube oder Skype generierten Material schreibe, dann arbeite ich mit historisch und somit auch künstlerisch nicht verifizierten Quellen. Die Bedeutung dieser Quellen und des Materials, das ich daraus generiere kann heute eine große, morgen gar keine mehr sein.

Heutzutage wird der Versuch einer Evaluierung zeitgenössischer Phänomene
dadurch erschwert, dass wir die Wege von Informationsübermittlungen ebenso wie die Wechselwirkungen zwischen Informationen und gesellschaftlicher Resonanz in ihrer Komplexität weder nachverfolgen, geschweige denn kontrollieren können.
Nicht nur die Unmöglichkeit des zeitlichen Abstand-Nehmens, sondern auch die Komplexität heutiger Informations- und Resonanzverläufe kreieren die Unschärfe der Gegenwart. Doch ist eine künstlerische Notwendigkeit vorhanden, mit gegenwärtigen und nicht verifizierten Quellen zu arbeiten, besteht immerhin die Chance, das man im gefundenen Kommunikationsmodell den Anstoß für die Verifizierung einer Quelle gibt oder einen in der Gegenwart vorhandenen Verifizierungsprozess unterstützt. Die Öffentlichkeit, das Publikum, die Rezipienten können Quellen verifizieren, in dem sie darüber kommunizieren. Künstler hingegen können den Grund für Kommunikation kreieren und aktiv Kommunikationsmodelle anbieten. Das ist eine große Chance für Komponisten/innen in einem aktuellen Diskurs Position zu beziehen, mitzuwirken und auf künstlerischem Wege ihre Haltung und Botschaft über den Versuch der Verifizierung ihrer Quelle zu manifestieren.

3. Alte Ordnungen loslassen.
Die Aufspaltung der Gegenwart und der damit verbundene Kontrollverlust

Wir leben heute nicht mehr in einer Realität, wir leben in verschiedenen Realitäten, die sich neben den Extrempolen der reinen Realität und der virtuellen/elektronischen Realität vorrangig in der gemischten, in der mixed reality abspielt.
Gegenwärtige politische, sozialwissenschaftliche, gesellschaftliche oder kĂĽnstlerische Phänomene wirken in diesem Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum und die Wechselwirkungen, die sie innerhalb dieses Kontinuums und im Zuge der weiter voranschreitenden Globalisierung und der lebhaften Betätigung des Re-Tweets-, Comment- und Share-Buttons auslösen sind chaotisch. 85 Prozent der 14-29jährigen nutzen soziale Netzwerke, bei den ĂĽber 50jährigen ist jeder zweite in einem sozialen Netzwerk angemeldet3 â€“ das beweist, dass wir es bei sozialen Plattformen nicht mit einem Jugendhype, sondern mit einem Gesellschaftsphänomen zu tun haben.

Nun findet neben diesem Prozess der rasanten Informationsverbreitung parallel der Prozess der Informationssammlung statt, so dass über jeden Internetnutzer nahezu vollständige Persönlichkeitsprofile angelegt werden könnten, die ebenso in der realen Welt gültig sind. Das bedeutet, dass die oben genannten Unschärfen in der Kategorisierung von relevanten/nicht relevanten Phänomenen nicht nur durch die Informationsverbreitungsmechanismen verstärkt werden, sondern wir als Beobachter und Rezipienten neben unserer realen und virtuellen Existenz auch indirekt mit unserer Existenz als Daten-Matrix ein Resonanzfeld eröffnen. Die Tatsache, dass wir auch als Abfallprodukt unserer virtuellen Handlungen existieren und Lokalisierung, Relevanz und Verwendung dieser Informationen überwiegend schleierhaft sind schließt auch die Möglichkeit nicht aus, dass unsere Daten-Matrix auf die Valenz von Ereignissen und Phänomenen Einfluss hat.

Bei einer solchen Konstruktion von Kommunikation stößt das wohl geordnete Ursache- Wirkungsprinzip an seine Grenzen. Nicht lineare Rückkopplungseffekte lassen Entwicklungsprognosen an unberechenbaren Momentaufnahmen scheitern und wenn sich eine Einschätzung im Nachhinein als richtig erwiesen hat, war mit Sicherheit auch ein Quantum Zufall im Spiel.

Sich in einem solchen System für einen Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung zu entscheiden, ist kein leichtes und ein zudem risikoreiches Unterfangen. Man muss sich zwar nicht dem möglichen Vorwurf stellen, die Einschüchterungswirkung verifizierter Quellen für das eigene Schaffen auszunutzen, dafür aber dem Vorwurf der Oberflächlichkeit, weil man mit zeitgenössischen Phänomenen und Ereignissen auch immer indirekt den Glamour des Mainstreams nutzt (was übrigens nicht bedeutet, dass die Arbeit mit qualifizierten Quellen Underground ist).
Beide Vorwürfe prallen an einem fundierten und durchdachten künstlerischen Konzept ab. Aber ob das Konzept der nicht verifizierten, der gegenwärtigen Quelle in zehn oder 100 Jahren noch relevant ist, hängt davon ab, ob sich das Material UND die Form der künstlerischen Auseinandersetzung im Zuge der weiteren Entwicklungen von Kunst, Politik und Gesellschaft als relevant erwiesen haben.

Betrachtet man diese chaotischen, nicht linearen Entwicklungen im Realitäts- Virtualitäts-Kontinuum aus einer logischen Perspektive und versucht Ordnungsprinzipien aufzustellen wird man immer wieder scheitern. Die einzige Chance, in einem solchen System Entwicklungen zu begreifen und zu reflektieren liegt darin, sich in ihnen und mit ihren Mechanismen zu bewegen.

Der Psychologe und Unternehmensberater Peter Kruse bringt an dieser Stelle ein weiteres Stichwort ins Spiel, wenn er sagt:

Man kann das Internet abschalten, aber man kann es nicht beherrschen. Erst wenn man sich grundsätzlich von der Idee der Kontrolle verabschiedet, öffnet sich der eigentliche Mehrwert des Internets.4

Das Anerkennen des Kontrollverlustes in heutigen Kommunikationsmodellen bedeutet auf die Kunst übertragen nicht, dass man als Musikschaffender einen Freifahrtschein für das Außer-Kontrolle-Geraten der Konzeption erhält. Es bedeutet, dass der Kontrollverlust ein vorhandenes Phänomen ist, das in der Ausführung und Rezeption eines Werkes durchaus eine Rolle spielen kann und zwar auf eine ganz andere Art und Weise als es z. B. bei John Cage der Fall war, der Improvisationsmomente und Zufallsprinzipien als wesentliche Bestandteile seiner Kompositionsmodelle definierte – die Kontrolle über Ausdruck und Gestus liegt bei solchen Modellen immer noch beim Urheber, der als solcher existiert und präsent ist. Der Kontrollverlust von dem Peter Kruse spricht, findet auf einer anderen Ebene statt, nämlich auf der Ebene der Entstehung und der Rezeption. Was bedeutet es, als Komponist/in die Kontrolle zu verlieren? Es bedeutet, ein Werk zu öffnen, es für eine lebhafte Betätigung des Re- Tweets-, Comment- und Share-Buttons freizugeben. Wie das „Werk“ sich dann gestaltet, ist nicht absehbar und kann – gemäß der Tatsache, dass ein zeitliches Abstand-Nehmen von der Gegenwart unmöglich ist – erst im Nachhinein bestimmt werden.

4. Neue (Un)Ordnungen kreieren.
Beispiele fĂĽr das Arbeiten im Kontrollverlust

Ein Beispiel hierfĂĽr ist die audiovisuelle Performance LIMBO LANDER5 von Jagoda Szmytka, die im Sommer 2014 bei den Darmstädter Ferienkursen aufgefĂĽhrt wurde. Es handelt sich dabei um eine Studie, deren Ziel es war, mit einer Gruppe von Musikern eine Identität im realen und virtuellen Raum zu kreieren, deren Beiträge in Form von Posts, Klängen und Bildern Teil des Kompositionsprozess wurden. Das kompositorische Material entstand ebenfalls im realen und virtuellen Raum aus der Interaktion zwischen Komponistin und Musikern. Gegen Ende der Kompositionsphase startete Jagoda Szmytka einen Aufruf an zahlreiche Komponisten auf Facebook, vorhandene Arbeitenoder Teile aus sich gerade im Kompositionsprozess befindenden StĂĽcken und Form von Video, Musik oder Text an sie zu schicken, die sie anschlieĂźend in die Performance integrierte.
Ein anderes Beispiel aus dem Schaffen Hannes Seidls zeigt Inseln des Kontrollverlustes in Entstehung und AuffĂĽhrungssituation auf: in The Art of Entertainment bestimmte der Komponist im Vorfeld zeitliche Abschnitte, in denen Teile eines vorangegangenen StĂĽckes aus dem jeweiligen Konzertprogramm integriert werden mĂĽssen. Diese Teile werden während der jeweiligen AuffĂĽhrung aufgenommen und während der AuffĂĽhrung von The Art of Entertainment an einem in der Partitur definierten Zeitpunkt abgespielt. Ebenso werden Teile aus The Art of Entertainment während der AuffĂĽhrung eines anderen StĂĽckes aus dem Programm simultan gespielt, wodurch nicht nur The Art of Entertainment selbst einem unvorhergesehenen Prozess ausgesetzt wird, sondern gleichzeitig auf Prozesse anderer StĂĽcke einwirkt.6 Dieses Konzept ist ein Beispiel aus einer Synthese von Kontrolle und Kontrollverlust – zwar wird der Rahmen der Expansion des Werkes zeitlich bestimmt, jedoch ist nicht abzusehen, in welche Wechselwirkung die offen angelegte Form der Komposition mit den anderen StĂĽcken (und den Reaktionen der Komponisten/innen) im Programm tritt.

Ein drittes Beispiel ist meine Aktion PUBLIC PRIVACY #CITY7, die im Oktober 2014 in der Bamberger Innenstadt stattfand. Basierend auf meiner fĂĽr Soloinstrument, Zuspielung und Live-Performer konzipierten Reihe setzte ich mit PUBLIC PRIVACY #CITY einen musikalischen wie auĂźermusikalischen Verweis. Ich entwickelte fĂĽnf Aktionen fĂĽr den öffentlichen Raum von einer Plakatreihe ĂĽber eine Performance und Klanginstallationen bis hin zur AuffĂĽhrung von PUBLIC PRIVACY #1 Flute Cover (siehe Abb. 1) in einem Wohnungsfenster. Bei der Klanginstallation Private

Tweets beispielsweise habe ich ĂĽber einen Abb. 2: Private Tweets (PUBLIC PRIVACY #CITY) längeren Zeitraum in CafĂ©s und Bars Gespräche von Bambergern unbemerkt mitgeschnitten und diese anschlieĂźend von kleinen Lautsprechern abspielen lassen, die sich in acht in der Stadt verteilten Vogelkästen mit aufgedrucktem Twitterlogo befanden (siehe Abb. 2). Diese als kĂĽnstlerische Hashtags bezeichneten Aktionen zum Thema Post Privacy und Public Privacy öffnete ich als Ausgangspunkt den Mechanismen des Sharings. Am Tag des Aktionsstarts war aus der Grundidee ein Team von 10 KĂĽnstlern aus unterschiedlichen Sparten entstanden, die sich in PUBLIC PRIVACY #CITY eingeklinkt haben und auf ihre Weise in Form von Performances, Installationen, Ausstellungen, eines TheaterstĂĽcks fĂĽr Bar-Locations, FĂĽhrungen und Objekten darauf antworteten, intervenierten, kommentierten und eigenständig entwickelten. Aus der teilweise stattfindenden Gleichzeitigkeit von Aktionen entstanden neue Verbindungen – so entschloss sich beispielsweise der spanische bildende KĂĽnstler JesĂşs Palomino während der in einer kĂĽnstlerischen FĂĽhrung stattfindenden AuffĂĽhrung von PUBLIC PRIVACY #1 Flute Cover eine simultane Stör-Performance zu präsentieren. Er stellte sein Handy auf den Lautsprechermodus um und eine aufdringlich erklingende, fremdsprachige Stimme nahm plötzlich an seinem Ohr die Rolle einer Art Live-Kommentatorin zur laufenden AuffĂĽhrung ein. Aus einer Keimzelle, aus dem Versuch einer Verifizierung einer gegenwärtigen Quelle ĂĽber die Ă–ffnung nach auĂźen und ĂĽber die Chancen des Kontrollverlusts, ist ein Projekt entstanden, das eine Stadt und eine Ă–ffentlichkeit fĂĽr einen Tag fĂĽr eine Thematik auf vielfältigste kĂĽnstlerische Weise sensibilisiert hat.

In allen drei Beispielen für einen Kontrollverlust im Entstehungsprozess und Rezeption einer Komposition ist der Verlust oder partieller Verlust der Urheberschaft Programm. Der Komponist oder die Komponistin tritt als Initialzünder in Vorschein und bietet ein Kommunikationsmodell an – im Laufe des Entstehungs- oder Aufführungsprozesses geschieht jedoch eine Multiplikation der Urheber, deren künstlerische Fähigkeiten zu einem rhizomatischen, verweisenden und lebendigen Objekt verschmolzen sind.

4.1 Ideen teilen. Social Composing

Rhizomatische und verweisende Strukturen sind jene Strukturen, die unsere Gesellschaft im Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum derzeit am stärksten prägen und verändern. Diese Veränderungen entstehen in und aus vorhandenen Kommunikationsmodellen und –strukturen und wirken auf die Gesellschaft zurück: sie implizieren einen gesellschaftlichen und künstlerischen Diskurs über die Definitionen von Präsenz, Anwesendheit und Gegenwärtigkeit. Oder aus der sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpsychologischen Perspektive betrachtet implizieren sie einen Diskurs der Begriffe Einsamkeit, Isolation und Gemeinsamkeit. Ist jemand einsam, dessen Kommunikation allein auf Facebook, Email und Skype stattfindet? Wie definiert sich Präsenz und Anwesenheit in einem Skype-Gespräch, wie verändern Onlineplattformen unser Sozialverhalten?

Diese neuen Kommunikationsformen schaffen darĂĽber hinaus neue gesellschaftliche BedĂĽrfnisse: das ANWESEND-SEIN, das PRĂ„SENT-SEIN, in Gestalt von WIRKEN und VERĂ„NDERN, von MITTEILEN und TEILEN in diesen Kommunikationsstrukturen.
Die Kommunikationsstrukturen und die von ihr geweckten BedĂĽrfnisse finden sich ebenso in Globalisierungsmechanismen wie in Communities und fĂĽhren zu einer kontinuierlichen Beschleunigung in der Entwicklung von netzartigen Verweisstrukturen und gesellschaftlichen Verzweigungen.

As Musikschaffender kommt man daher nicht umhin, die Gegenwart durch die Brille neuer Kontextualisierungen zu betrachten. Die Gegenwart als eine Zeit zu verstehen, in der Perspektiven und Blickwinkel freier als je zuvor angenommen werden können, in der sich künstlerische Arbeiten, insbesondere der jüngeren Generationen, immer stärker mit Verweisen, Rückbezügen und Beziehungen zu gesellschaftlichen Phänomenen durch die Wahl Ihrer Ausdrucksmittel auseinandersetzen – es ist eine Zeit, die zu multimedialen, musiktheatralen, performativen Setups und Kooperationen zwischen Künstlern und Usern geradezu aufruft – und der Bereich der sozialen Medien wird von der Neuen Musik gerade erst entdeckt.

Kompositionsstrategien, die sich mit Social Media oder Social-Media-immanenten Modellen beschäftigen und ihr Material daraus generieren bezeichne ich als Social Composing. Ein Komponieren in einem sozialen Umfeld, statt an einem asozialen Schreibtisch. Es gibt beim Social Composing wie bei bei der Social Media Art zwei grundlegende Ansätze:

Kompositionen, die Social Media als Material benutzen, bei dem der Kompositionsprozess an und fĂĽr sich aber abgetrennt vom Dialog stattfindet. Und Kompositionen, deren Kompositionsprozess im Social Media stattfindet, so dass der Dialog als solcher Bestandteil des Werkes wird.
Beide Social Composing Formen haben gemeinsam, dass sie nur mit dem Internet und durch Onlineplattformen entstehen können, unterscheiden sich jedoch in ihren Arbeitsprozessen. Beide Formen haben auch gemeinsam, dass es sich um eine Arbeit mit oder in gegenwärtigen Kommunikationsmodellen handelt, deren Organismus darĂĽber hinaus ein Intermedialer ist.
Ein Beispiel dazu: Meine 2013 begonnene Reihe Public Privacy ist eine Serien von StĂĽcken fĂĽr Soloinstrument, Youtube-Videos und Zuspielung, bei der ein Live-Performer mit Youtube-Instrumentalisten in einen Dialog tritt.8 Bisher sind drei StĂĽcke in der Reihe entstanden, deren Arbeitsprozess der ersteren Form des Social Composing entspricht und der Kompositionsprozess abgetrennt vom Dialog im Social Media stattfindet. In Public Privacy spielen verschiedene Aspekte des Coverns eine zentrale Rolle. Laienmusiker oder Profis ersetzen die Melodiestimme beliebter Songs durch die gleiche Melodiestimme ihres jeweiligen Instrumentes und laden das Resultat anschlieĂźend bei Youtube hoch. Spannend ist dabei einerseits, wie mit Vorstellungen von Virtuosität und der Verwendung klassischer Instrumente im heutigen Alltag umgegangen wird. Gleichzeitig geben die Videos aber auch Aufschluss darĂĽber, wie die Begriffe des Privaten und des Ă–ffentlichen definiert werden, wieviel ein Spieler ĂĽber sich und seinen Lebensraum erzählt, ĂĽber Ă„sthetik, ĂĽber die Form der Präsentation und deren RĂĽckwirkung auf die Musik und ĂĽber das Gegenwärtige und das Abwesende einer musikalischen Performance.

Jeder Musiker, der ein StĂĽck aus Public Privacy live auffĂĽhrt, muss vorher ein kurzes Video in beliebiger Qualität aufnehmen, in dem er oder sie in den eigenen vier Wänden oder einem anderen fĂĽr den jeweiligen Spieler passenden Ort ein Youtube-Video simuliert. Dieses Video wird in Ausschnitten in das Zuspielvideo mit den Youtubern eingefĂĽgt. Jedes Mal, wenn ein anderer Musiker das StĂĽck auffĂĽhrt, wird ein Youtuber aus dem Video gelöscht und durch das simulierte Video des Live-Performers ersetzt, so dass nach einer gewissen Anzahl von AuffĂĽhrung durch verschiedene Musiker (ca. zwischen 16-18 StĂĽck) die Youtuber verschwinden und nur noch die Live-Interpreten in ihren vier Wändern zu sehen sind. Danach wĂĽrde ich im nächsten Schritt wieder Youtuber als Rezipienten fragen, das StĂĽck oder ein beliebiges anderes mit dem Zuspielvideo bei sich zu Hause aufzufĂĽhren, so dass wieder Youtuber im Video erscheinen, den Entwicklungsprozess des StĂĽckes auf diese Weise jedoch mitnehmen. D.h. die Public Privacy StĂĽcke werden einem kontinuierlichen Transformationsprozess ausgesetzt, der eine Entwicklung von einem ursprĂĽnglich vom Social Media abgetrennten Kompositionsprozess zu einem in Social Media stattfindenden Arbeitsprozess durchläuft und keinen Doppelstrich aufweist. Statt dessen greift das StĂĽck auf die Rezipienten selbst ĂĽber, die Bestandteil des StĂĽckes werden können.

5. Senden und empfangen.

Die Beispiele für Social Composing oder das Arbeiten mit dem Kontrollverlust zeigen Arbeitsweisen- und Prozesse auf, die mitten im Spannungsfeld einer inkonsistenten Gegenwart stattfinden. In Anbetracht der Möglichkeiten für gegenwartsreflektierende Themenfelder und Kommunikationsmodelle in einer Komposition sind diese Beispiele nur ein Ausschnitt eines unüberschaubaren, vielleicht sogar unendlichen Gesamtbildes, einer unendlichen Projektion, die sich wiederum aus unendlich vielen Projektionen von Wirklichkeiten zusammensetzt. Bei allen neu entstehenden Phänomenen in einer Gesellschaft soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass auch das innere Erscheinungsbild „neu“ ist. Wenn man nämlich ein neues Phänomen, seine Erscheinungsform sowie das Kommunikationsmodell abstrahiert, legt man immer gleiche Grundthemen frei, die seit Jahrhunderten den Menschen in seinem existentiellen Dasein begleiten: Einsamkeit und Isolation, zersplitterte Hoffnungen und unerfüllte Sehnsüchte, die vielen Geburten und Tode einer menschlichen Geschichte, der Wunsch nach Überwindung des Körpers und der Wunsch nach Unendlichkeit. Themen, die sich niemals ändern werden, die sich aber immer wieder aufs Neue zu Dimensionen einer gegenwärtigen Landschaft verhalten. Und dieses Verhalten zueinander ist der entscheidende Moment, das Phänomen, das die Gegenwart prägt und definiert.

Die Schnelligkeit der Gegenwart und die Langsamkeit, mit der eine Komposition vom ersten Gedanken bis zum bis hin zur Aufführung wächst, scheint der größte Spalt zu sein, der zwischen Komponisten und der Gegenwart klafft. Ein Spalt, der jedoch irrtümlicherweise häufig mit Inflexibilität der Gattung Komposition betitelt wird und folgernd als einziger Lösungsweg für das zeitliche Dilemma ein Standard- Kompositionsmodell erscheint, das perfektioniert werden kann.

Komponieren wird immer einen zeitintensiven Arbeitsprozess implizieren, da die Kommunikation nicht direkt zwischen Komponist und Rezipient stattfinden kann. Die Entscheidung ĂĽber Flexibilität oder Inflexibilität einer Komposition findet jedoch im Kopf der Musikschaffenden statt. Sobald die Entscheidung getroffen wird, sich mit den Kommunikationsmodellen der Gegenwart auseinanderzusetzen, kann das Entwickeln neuer Kompositionsmodelle ebenso etabliert, trainiert oder perfektioniert werden, wie die Perfektionierung eines einzigen Modells, dessen Botschaft aber dementsprechend auch immer nur die gleiche sein kann. Die Crux ist letztlich nicht das immer gleiche Modell, sondern der dahinter liegende Anspruch, dass dieses immer gleiche Modell unterschiedliche Botschaften sendet. Das ist ĂĽbrigens ein Phänomen, das Albert Einstein so formuliert: Immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, ist die Definition von Wahnsinn.

Das Erfinden von gegenwartsbezogenen Kommunikationsmodellen öffnet einen wesentlich reicheren und vielschichtiger angelegten Entwicklungsraum. Und bei aller erforderten Flexibilität, Prognose-, Reflektions- und Risikobereitschaft und einer notwendigen unökonomischen Handlungsweise für Komponisten lockt am Ende ein höchst attraktives Ziel:

Die Unschärfe der Gegenwart in eine scharfgestochene Momentaufnahme zu verwandeln und den Prozess der Verifizierung eines Materials und Themenfeldes in der Ist-Zeit mittels aller Existenzen im Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum selbst auszulösen. Das bedeutet die Möglichkeit fĂĽr ein höchstes MaĂź an kĂĽnstlerische Freiheit.

Quellen:

[1]Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, C.H.Beck, MĂĽnchen 2001, S. 135-142.

[2]Paul Milgram, H. Takemura, A. Utsumi und F. Kishino: Augmented Reality: A class of displays on the reality-virtuality continuum, in: ATR Communication Systems Research Laboratories (Hrsg.): Telemanipulator and Telepresence Technologies, Kyoto 1994, S. 282-292, hier S. 282.

[3] Nathalie Huth, Tobias Arns, Lars Budde: Soziale Netzwerke 2. Auflage Eine repräsentative Untersuchung zur Nutzung sozialer Netzwerke im Internet, Studie der BITKOM (Hrsg.), Berlin 12/2011, S. 7. www.bitkom.org/files/documents/SozialeNetzwerke.pdf, zuletzt aufgerufen am 02.09.2014

[4] Peter Kruse: Kontrollverlust als Voraussetzung fĂĽr die digitale Teilhabe, in: Herbert Burda, Mathias Döpfner, Bodo Hombach, JĂĽrgen RĂĽttgers (Hrsg.): 2020 – Gedanken zur Zukunft des Internets, Essen 2010, S. 67-71, hier S. 69.

[5]Jagoda Szmytka: LIMBO LANDER, http://www.jagodaszmytka.com/limbo-lander_about.html. Zuletzt aufgerufen am 25.10.2014.

[6]Hannes Seidl: The Art of Entertainment, Edition Juliane Klein. Eine detaillierte Beschreibung zur Funktionsweise des StĂĽckes findet sich unter: http://www.editionjulianeklein.de/files/works/annotations/seidl_AoE_erklaerungsseit e.pdf (zuletzt aufgerufen am 25.10.2014)

[7]Brigitta Muntendorf: PUBLIC PRIVACY #CITY

[8]Brigitta Muntendorf: Public Privacy (2013-2014). Bisher existieren Public Privacy #1 Flute CoverPublic Privacy #2 Piano CoverPublic Privacy #3 Trumpet Cover. Notenmaterial und Erläuterungen unter www.brigitta-muntendorf.de (zuletzt aufgerufen am 25.10.2014)

[9]Weitere Beispiele fĂĽr Social Media Kompositionen: Jagoda Szmytka: LIMBO LANDER (2014), sky-me, type-me (2011). Sergej Maingardt: It’s Britney Bitch (2013), Richmond & Chladil Overheard (2008-2010).