brigitta muntendorf

Anleitung zur künstlerischen Arbeit mit der Gegenwart (2015)

Essay erschienen in: „Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in Neuer Musik“, ed. Jörn Peter Hiekel, Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 55 (Mainz u.a.: Schott, 2015)

1. Akzeptieren.
Der Tribut der Gegenwart.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen ist gerade für Komponisten/innen eine nicht besonders attraktive Angelegenheit. Im Gegensatz zur bildenden Kunst ist unser Instrumentarium ein weitestgehend Historisches und die Musik etwas Abstraktes. Allein mit Musik einen gesellschaftskritischen oder gesellschaftsreflektierenden Standpunkt einzunehmen ist vergleichbar mit der Aufgabe, ein Foto mit gleichen Attributen mit den Ohren wahrzunehmen.

Doch nichts ist unmöglich und auch in diesem Fall gibt es Mittel und Wege, als Komponist/in in den Ring der Gegenwart zu steigen. Die Gegenwart heute ist eine andere als die Gegenwart zu Zeiten von Hanns Eisler, Kurt Weill, Nam June Paik oder Luigi Nono. Heute sind diese Komponisten Teil der Geschichte und somit sind auch ihre Klang- und Kunstsprache Teil der Geschichte und können nicht einfach als Modelle für ein Komponieren mit der Gegenwart verwendet werden – es sei denn, man möchte auf die jeweilige Klangsprache dezidiert verweisen. Die Vergangenheit prägt die Gegenwart und die Gegenwart prägt das Zukünftige – das sind drei Sprachen, denen allesamt etwas gemein ist – sie sind nur temporär gegenwärtig und ob sie ihre Zeit überdauern oder ihr voraus sind, kann erst im Nachhinein erörtert werden.

Das Arbeiten mit der Gegenwart bedeutet, ein in der Gegenwart existierendes Phänomen in den künstlerischen Prozess zu integrieren.
Allein diese erforderte kompositorische Mobilität verwehrt all jenen Komponisten/innen den Zugang zur Gegenwart, die mit festen Modellen arbeiten oder deren alleiniges Interesse in rein musikalischen Parametern liegt, wie z.B. in Instrumentation, Rhythmus oder Klangarchitektonik. Das Arbeiten mit der Gegenwart bedeutet des Weiteren, dieses im künstlerischen, bzw. kompositorischen Prozess integrierte Phänomen in einem beliebigen Kontext sicht- und/oder hörbar zu machen. Die Rolle der Musiker, des Erklingenden und der Kompositionsästhetik muss demnach grundsätzlich und zusätzlich zum musikalischen in einem kontextorientierten Denken bestimmt werden – Parameter, die dann entscheidend werden und Bedeutungen erhalten, wenn neben die Musik die Message tritt.

Denn was nutzt es, sich heute mit einem gegenwärtigen Thema oder Phänomen auseinanderzusetzen, wenn es nicht vermittelt werden kann?
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, die Gegenwart in das Komponieren zu integrieren und somit gegenwärtig zu komponieren. Es gibt aber auch viele Fallgruben, die sich im Schaffensprozess öffnen und nur über die Brücke der Gegenwart geschlossen werden können. Denn jegliches gegenwärtiges Komponieren, seien die Klänge noch so „neu“, Themen z.B. politischer Art noch so aktuell, zugrunde liegende gesellschaftliche Phänomene noch so prägend – jegliches gegenwärtige Komponieren scheitert dann an der Gegenwart, wenn das Kommunikationsmodell nicht aus ihr generiert wird. Denn das Kommunikationsmodell, die Art und Weise, wie und in welcher Form eine Botschaft vermittelt wird, ist die einzige sicht- und hörbare Schnittstelle zwischen Kunst und Gegenwart. Und zugleich das relevanteste Merkmal zur Unterscheidung jetziger und vergangener Gegenwärtigkeiten.

Ein altes Kommunikationsmodell bleibt ein altes Kommunikationsmodell, ganz gleich wie brisant oder neu das zugrundeliegende Material oder Themenfelder sind.

1.2. Wahrnehmen.
Über die Schlüsselfunktion gegenwärtiger Kommunikationsmodelle

Die Voraussetzung für die Vermittlung einer rein musikalischen oder inhaltlichen Message ist ein funktionierendes Kommunikationsmodell zwischen musikalischen Setup und Rezipient. Musik ist Kommunikation. Wie konkret sich diese Kommunikation zwischen Urheber und Rezipient gestaltet kann frei bestimmt werden, jedoch ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass eine wie auch immer geartete Kommunikation stattfindet.

Das Kommunikationsmodell in einem musikalischen Setup ist der Schlüssel zur Gegenwart. Die Geschichte der Neuen Musik ist eine Geschichte über die Suche nach dem Neuen in der Musik, nach neuen Klangmöglichkeiten, neuen Formen und Systemen. Diese Suche ist jedoch inzwischen an und für sich nicht mehr gegenwärtig, sondern ein aus der Entstehung Neuer Musik entsprungener, selbstverständlicher, fortspinnender Prozess. Gegenwärtiges Komponieren jedoch bedeutet, ein in der Gegenwart existierendes Phänomen in den künstlerischen Prozess zu integrieren. Die in Bezug auf Kommunikation und Vernetzungsstrukturen existierende reiche Vielzahl von Möglichkeiten bestimmt maßgebend die Kommunikation unserer heutigen Gesellschaft. Die darin immanenten Mechanismen müssen sich auch in der Kunst wiederfinden, um Notwendigkeiten zu vermitteln. Dieser Aspekt wurde lange Zeit in der Neuen Musik außen vor gelassen. Es dominierte die Vorstellung des unantastbaren und über den Rezipienten erhabenen Schöpfers. Eine Vorstellung, die zeitlich auch ihre Notwendigkeit hatte, um Neue Musik überhaupt als eigenständige Kunstform zu etablieren und ihr mit aller Kraft einen Raum zu schaffen. Jedoch hat sich die Neue Musik inzwischen als Kunstform etabliert. Man findet sie in Opernspielplänen und Philharmonieprogrammen ebenso wie in unabhängigen Spielstätten und Vermittlungsprojekten. Dennoch wissen viele Menschen aus dem Bildungsbürgertum nicht, was es mit Neuer Musik auf sich hat und im Vergleich zum Wissen über Moderne Kunst befindet sich ihr Präsenzgrad meist sehr weit unten auf der Skala. Es ist offensichtlich, dass es ein Kommunikationsproblem gibt. Und dieses Kommunikationsproblem liegt weniger in der Vermittlung von Neuer Musik, als vielmehr im Kompositionsprozess selbst auf Seiten der Schaffenden.

Gegenwärtiges Komponieren bedeutet, gegenwärtige Kommunikationsmechanismen und Modelle musikalisch zu reflektieren. Das Internet hielt in den 90ern Einzug in die Gesellschaft und verkündete die Digitale Revolution, Vernetzung und Wissensteilung fanden ein Ballungszentrum und mit den seit 2003 neu hinzugekommenen Social Media Plattformen begann eine neue Ära der sozialen Kommunikation. Die kontinuierlich entstehenden Kommunikationsmodelle über Email, Twitter, Facebook, Youtube, Skype, Instagram, Foren und andere Plattformen sind neue Entwicklungen, die unser Kommunikationsverhalten grundlegend verändern und die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Urheber und Rezipient, zwischen Individuum und Gesellschaft permanent verschieben. Musik als Kommunikationsform bietet Komponisten/innen dementsprechend die Möglichkeit, an diesen Veränderungen zu partizipieren und verschiedenste Aspekte dieser Kommunikationsveränderungen musikalisch zu konvertieren.

1.3 Auseinandersetzen.
Die Crux des klanglichen Inhalts-Alphabetes

Die von vielen Musikschaffenden noch immer verwendete Methode, Klänge mit einem konkreten Inhalt zu belegen und darüber eine Art Alphabet von Inhalten zu kreieren erscheint in Anbetracht der Fülle, Vielzahl und Offenheit heutiger Kommunikationsmodelle veraltet und obsolet.

Wenn ein Klang, eine musikalischen Struktur, eine Melodie oder ein Geräusch in einem rein musikalischen Kontext mit einem Inhalt, einer konkreten Message belegt wird, die sich nur über den Text im Programmheft entschlüsselt, dann ist das allenfalls für den/die Komponisten/in relevant. Die Zuhörer werden letztlich betrogen, da solch wichtige Mitteilungen eben auf einem A4-Zettel am Eingang oder auf dem Sitzplatz statt auf der Bühne zu finden sind. Wenn man konsequent mit der Mitteilung umgehen würde, müsste diese während der Aufführung auf eine Leinwand projiziert werden. Dann wissen alle, dass der gerade gehörte Schlag mit der Hand auf die Snare die Ohrfeige symbolisiert, die Lukas Podolski in der WM-Qualifikation 2009 Mannschafts- Kapitän Michael Ballack gab. Und falls die Relevanz einer Projektion nicht vorhanden ist, dann besteht auch keine Notwendigkeit, einen solchen Inhalt in eine Musik zu legen.

Das Nicht-Hörbare und Nicht-Sichtbare eines Inhalts, einer Message in einem musikalischen Kontext, entzieht dem Inhalt, der Message die Daseinsberechtigung.

Während der Übersetzung in Musik, Klang, Rhythmus, Melodie geschieht eine vollständige Transformation und Verschlüsselung des Inhaltes, die diesen bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und somit eine inhaltliche Kommunikation mit dem Rezipienten unmöglich macht.

Natürlich kann diese Methode als Übermittlung einer „privaten Botschaft“ an einen eingeweihten Adressaten eingesetzt werden. Als Vorbild könnte hier z. B. Alban Berg dienen, der seine Dreiecksbeziehung zu Hanna und Helene in Form von zugeteilten Motiven in der lyrischen Suite aufarbeitete. Jedoch ist diese Message hier ganz eindeutig Subtext und nicht zentrale Botschaft. Ein Subtext, d.h. zusätzliche Kontextualisierungen, die als Randerscheinungen ein Werk umgeben, dient nur dazu, den Kontextraum der zentralen Botschaft zu erweitern und kann die zentrale Botschaft und ihr Kommunikationsmodell nicht ersetzen.

Zumindest nicht in unser Gegenwart in Deutschland, Österreich, in Europa, in Kannada, den USA und vielen anderen Orten, an denen Kommunikationsfreiheit gegeben und diese Offenheit gleichzeitig auch eine Weiterentwicklung der Kommunikationsmechanismen provoziert. Die Gegenwart und somit auch die Kommunikationsfreiheit in beispielsweise Syrien, im Iran, in Russland, sogar in der Türkei ist jedoch eine andere, auch wenn sie gleichzeitig stattfindet.

Zur Zeit des russischen Formalismus hat es für Dmitri Schostakowitsch nur eine Chance gegeben, politischen Widerstand zu leisten und dabei sein Leben nicht zu gefährden – indem er sich gerade die Abstraktheit der Musik für Botschaften zu Nutze machte, wie es z.B. im letzten Satz der 5. Sinfonie der Fall ist.

Somit stellt sich die Frage, ob eine Art klangliches Inhalts-Alphabet in Ländern und Räumen ohne freie Kommunikationsmöglichkeiten gegenwärtig wäre. Natürlich – weil in diesem Fall die Verschlüsselung „Inhalt gleich Klang“ ein Kommunikationscode repräsentiert, der Botschaften trotz Repression an bestimmte Adressaten vermitteln kann und Kommunikation ermöglicht.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass es nicht nur eine Gegenwart und eine Form gegenwärtigen Komponierens gibt, da wir an verschiedenen Orten verschiedenen Kommunikationsmechanismen und –möglichkeiten begegnen. Gegenwärtiges Komponieren bedeutet immer, sich mit dem jeweils vorhandenen Kommunikationsmechanismen auseinanderzusetzen und aus ihnen heraus über die Bedeutung von Musik und Botschaft nachzudenken.

2. Wieder Akzeptieren. Transformieren.
Die Inkonsistenz und Vergänglichkeit der Gegenwart als Befreiung begreifen.

Ist diese Hürde genommen, ein Konzept gefunden und Abstraktion und Botschaft in ein dialektisches Verhältnis gebracht, hat die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart für Komponisten/innen jedoch immer noch unattraktive Züge. Noch weniger attraktiv gestaltet sich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem möglichen Zukünftigen, da sie nicht nur das schwierige Unterfangen eines Verständnisses der Gegenwart bewältigt wissen will, sondern auch noch Zukunftsprognosen verlangt, die im besten Falle zutreffen sollten.

Die Unattraktivität einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart liegt für viele Komponisten/innen in der Instabilität und Inkonsistenz des Gegenwärtigen begründet. Instabilität und Inkonsistenz zwingen den mit der Gegenwart agierenden Kunstschaffenden, sich ihr anzupassen und somit auch negativ konnotierte Eigenschaften wie Flüchtigkeit, Banalität oder Oberflächlichkeit als mögliche Parameter zu berücksichtigen und in Kauf zu nehmen. Er muss bereit sein, die Inkonsistenz und das Vergängliche der Gegenwart als Material und Prozess zu begreifen und er muss bereit sein, sich diesem Prozess auszuliefern.

Komponisten/innen, die mit einem mehr oder weniger festgelegten harmonischen, rhythmischen, materialorientierten oder konzeptuellen System arbeiten, müssen ihre kompositorischen Strategien von Werk zu Werk nicht verändern. Bei ihnen besteht die Arbeit darin, die vorhandene Strategie in Form von Variationen, Abwandlungen oder Erweiterungen zu manifestieren.

Komponisten/innen, die mit gegenwärtigen Phänomenen und somit auch mit einer mehr oder weniger konkreten Message arbeiten, sind hingegen mit einer ständigen Erneuerung von Kompositionsmodell und Strategie in Hinblick auf alle Parameter wie Material, Anordnung, Wechselwirkung, Form und Rolle der Instrumente und des zu Erklingenden konfrontiert – eine zutiefst unökonomische Herangehensweise. Die über das rein Akustische hinausgehende Bedeutungszuordnung verlangt eine zusätzliche Auseinandersetzung und abhängig von dem jeweiligen Setup und/oder der jeweiligen Message müssen auch neue Notationsformen entwickelt oder evtl. die naheliegende intermediale Anordnung in Betracht gezogen werden. Das sowieso schon verglichen mit anderen Kunstformen langwierige Unterfangen Musik zum Erklingen zum bringen wird immens strapaziert. Und in diesem ganzen Konstruktionsprozess kann es jederzeit passieren, dass sich die Gegenwart verändert und gewähltes Material, Technologien, Plattformen und Kommunikationsmodelle plötzlich als passé, als out, als Schnee von gestern tituliert werden, weil neue Technologien und neue gesellschaftspolitische Themen auftauchen oder ein soziales Netzwerk mit einem Kommunikationsmodell durch ein anderes mit einem anderen Kommunikationsmodell ersetzt wird. In der Musikgeschichte begegnet man z. B. hinsichtlich der Technologien immer wieder solchen Beispielen, wie bei Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur oder Pierre Schaeffer, die mit neuesten Technologien der elektronischen Klangerzeugung arbeiteten und Magnettonbändern als Speichermedium verwendeten. Diese werden jedoch in der heutigen Zeit nicht mehr hergestellt und erfordern eine Digitalisierung, um weitere Aufführungen zu ermöglichen. Aber auch Stücke die in den letzten Jahren mit Hilfe von open Source Programmen entstanden sind, benötigen immer wieder eine Generalüberholung zugrunde liegender Patches oder anderer Programmierungsformen, weil Software weiterentwickelt und immer wieder Probleme der Kompatibilität auftauchen.

Gegenwärtiges Komponieren bedeutet, sich auf die Inkonsistenz und Vergänglichkeit der Gegenwart einzulassen und sich als ein in der Gegenwart denkendes und agierendes Wesen mit allen Möglichkeiten und Unvollkommenheiten auseinanderzusetzen. Und in diesem Prozess geschieht eine wundersame Verwandlung: Der Komponist oder die Komponistin entfernt sich in dieser Arbeitsweise automatisch von dem noch immer existierenden Bild des allwissenden Schöpfers und dessen „Meisterwerk“. An diese Stelle tritt etwas sehr Wertvolles, das in der Neuen Musik lange Zeit keine Daseinsberechtigung hatte – die Intuition und das Gespür für Notwendigkeiten. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und das künstlerische Arbeiten mit und in der Gegenwart als Möglichkeit für die Auflösung von Hierarchien begreifen, die Material und musikalischen Strukturen in der Vergangenheit zugeordnet wurden. Wenn eine Auseinandersetzung mit einem Kommunikationsmodell einen zentralen Stellenwert im Kompositionsprozess erhält, macht es keinen Unterschied, ob das Material von dem Urheber selbst, von Britney Spears, aus der Meditationsmusik Sri Sri Ravi Shankars, von Mozart oder aus dem Alltag stammt. Es geht allein darum, welche Kommunikationsfähigkeit mit diesem Material in einem Stück erreicht werden kann und mit welchen Fähigkeiten künstlerischen Gespürs und Intuition hinsichtlich einer Musikalität im weitesten Sinne dieses umgesetzt werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um E oder U Material handelt oder ob die entstehende musikalische Struktur komplex oder simpel ist – wenn das Material so verwendet wird, dass die intendierte Botschaft vermittelt werden kann, dann ist es für diesen Versuch das richtige Material gewesen, für einen anderen wird es das vielleicht nicht sein.

2.1 Motivieren und Ziele definieren.
Das Unmögliche möglich machen – über die Verifizierung gegenwärtiger Quellen

Die Inkonsistenz der Gegenwart besteht aber auch darin, dass einer reflektierten Beobachtung immer die Unmöglichkeit der Wahrung einer zeitlicher Distanz im Wege steht. Die Relevanz und Tragweite heutiger Ereignisse und Phänomene lassen sich aus der Gegenwart heraus nur schwer erkennen und einschätzen. Das Filtersytem der Gegenwart ist ein dynamisches, in dem sich Wertigkeiten kontinuierlich verschieben und eine historische Verifizierung noch nicht stattfinden kann.

Wenn man sich als Künstler/in oder Komponist/in in einer Arbeit auf eine historisch verifizierte Quelle stützt (z.B. auf ein Gedicht von Shakespeare oder ein politisches Ereignis), dann bedarf es keiner künstlerischen Rechtfertigung in Hinblick darauf, ob das Material historisch und somit auch im Rahmen einer künstlerischen Nutzung verifiziert ist. Die Eigenschaft verifizierter Quellen besteht darin, dass sie historisch bewiesen sind, indem sie ihre Entstehungszeit überdauert haben. Diese Überdauerung kann sehr vielfältig sein – das Ereignis oder das Werk kann abgelöst vom Urheber eine Eigendynamik entwickelt haben, ebenso kann die verifizierte Quelle durch Personifizierung überdauert haben oder sie wurde zu einem späteren Zeitpunkt nachträglich verifiziert, weil sie ihrer Zeit voraus war. In allen drei Fällen braucht es die Öffentlichkeit, die eine Quelle verifiziert, was im Extremfall dazu führt, dass z.B. ein

Kunstwerk als Meisterwerk deklariert wird.1 Die in der Neuen Musik oftmals anzutreffende Haltung, dass „das Publikum egal ist“ wird allein durch diesen Vorgang widerlegt. Das Publikum, die Rezipienten sind nicht egal, es sind schließlich die Adressaten und Resonanzkörper. Es mag uninteressant sein, ob ihnen ein Stück gefällt oder nicht, sie mögen Gehörtes und Gesehenes fehleinschätzen oder auch irrtümlich in den Himmel loben – das ist menschlich und unvollkommen, aber ändert nichts an der Tatsache, dass man sich als Komponist/in und Künstler/in immer bemühen sollte, die Botschaft und Notwendigkeit, aus der das Stück heraus entstanden ist, so klar wie möglich zu definieren und zu vermitteln.

Erstaunlicherweise wirken verifizierte Quellen auf gegenwärtig geschaffene Kunstwerke zurück und verifizieren dann das neu entstandene Kunstwerk. Diese Verifizierungsreaktionen sollten grundsätzlich kritischer in Augenschein genommen und es sollte unterschieden werden, ob das neu entstandene Werk in Blick auf z. B. Rückwirkung und Innovation einen Verweis auf die Gegenwart enthält und den Blick auf diese verändert (und neue, gegenwärtige Verifizierungen auslösen könnte) oder ob es sich der Gattung „In Memorial of“ anschließt. Dabei ist weder das eine besser noch das andere schlechter. Es wird allerdings oft genug das Einschüchternde verifizierter Quellen als Deckmantel genutzt, sich der Frage nach dem tatsächlichen künstlerischen Bezug und eines Werkes zur heutigen Zeit und der Frage nach dem Kommunikationsmodell zu entziehen.

Die Ignoranz eines Künstlers oder einer Künstlerin liegt nicht darin, dass es für ihn oder sie keine Rolle spielt, ob ein Stück gefällt oder nicht. Die eigentliche Ignoranz liegt darin, dass oftmals erwartet wird, dass dieser Verweis zur Gegenwart allein im Menschen selbst entstehen müsse, wenn der Verweis als solcher im „Werk“ nicht immanent ist. Diese Haltung reicht nicht aus, um die Wirklichkeit zu verändern, um sie unmöglich zu machen – denn das ist der Auftrag der Kunst.

Wir können uns immer auf verifizierte Quellen verlassen, denn wir verlassen uns darauf, dass die Geschichte als solche „wahr“ ist und dass sie sich nicht beweisen braucht. Folglich bedeutet die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart eine künstlerische Auseinandersetzung mit nicht verifizierten Quellen. Wenn ich ein Stück mit aus Youtube oder Skype generierten Material schreibe, dann arbeite ich mit historisch und somit auch künstlerisch nicht verifizierten Quellen. Die Bedeutung dieser Quellen und des Materials, das ich daraus generiere kann heute eine große, morgen gar keine mehr sein.

Heutzutage wird der Versuch einer Evaluierung zeitgenössischer Phänomene
dadurch erschwert, dass wir die Wege von Informationsübermittlungen ebenso wie die Wechselwirkungen zwischen Informationen und gesellschaftlicher Resonanz in ihrer Komplexität weder nachverfolgen, geschweige denn kontrollieren können.
Nicht nur die Unmöglichkeit des zeitlichen Abstand-Nehmens, sondern auch die Komplexität heutiger Informations- und Resonanzverläufe kreieren die Unschärfe der Gegenwart. Doch ist eine künstlerische Notwendigkeit vorhanden, mit gegenwärtigen und nicht verifizierten Quellen zu arbeiten, besteht immerhin die Chance, das man im gefundenen Kommunikationsmodell den Anstoß für die Verifizierung einer Quelle gibt oder einen in der Gegenwart vorhandenen Verifizierungsprozess unterstützt. Die Öffentlichkeit, das Publikum, die Rezipienten können Quellen verifizieren, in dem sie darüber kommunizieren. Künstler hingegen können den Grund für Kommunikation kreieren und aktiv Kommunikationsmodelle anbieten. Das ist eine große Chance für Komponisten/innen in einem aktuellen Diskurs Position zu beziehen, mitzuwirken und auf künstlerischem Wege ihre Haltung und Botschaft über den Versuch der Verifizierung ihrer Quelle zu manifestieren.

3. Alte Ordnungen loslassen.
Die Aufspaltung der Gegenwart und der damit verbundene Kontrollverlust

Wir leben heute nicht mehr in einer Realität, wir leben in verschiedenen Realitäten, die sich neben den Extrempolen der reinen Realität und der virtuellen/elektronischen Realität vorrangig in der gemischten, in der mixed reality abspielt.
Gegenwärtige politische, sozialwissenschaftliche, gesellschaftliche oder künstlerische Phänomene wirken in diesem Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum und die Wechselwirkungen, die sie innerhalb dieses Kontinuums und im Zuge der weiter voranschreitenden Globalisierung und der lebhaften Betätigung des Re-Tweets-, Comment- und Share-Buttons auslösen sind chaotisch. 85 Prozent der 14-29jährigen nutzen soziale Netzwerke, bei den über 50jährigen ist jeder zweite in einem sozialen Netzwerk angemeldet3 – das beweist, dass wir es bei sozialen Plattformen nicht mit einem Jugendhype, sondern mit einem Gesellschaftsphänomen zu tun haben.

Nun findet neben diesem Prozess der rasanten Informationsverbreitung parallel der Prozess der Informationssammlung statt, so dass über jeden Internetnutzer nahezu vollständige Persönlichkeitsprofile angelegt werden könnten, die ebenso in der realen Welt gültig sind. Das bedeutet, dass die oben genannten Unschärfen in der Kategorisierung von relevanten/nicht relevanten Phänomenen nicht nur durch die Informationsverbreitungsmechanismen verstärkt werden, sondern wir als Beobachter und Rezipienten neben unserer realen und virtuellen Existenz auch indirekt mit unserer Existenz als Daten-Matrix ein Resonanzfeld eröffnen. Die Tatsache, dass wir auch als Abfallprodukt unserer virtuellen Handlungen existieren und Lokalisierung, Relevanz und Verwendung dieser Informationen überwiegend schleierhaft sind schließt auch die Möglichkeit nicht aus, dass unsere Daten-Matrix auf die Valenz von Ereignissen und Phänomenen Einfluss hat.

Bei einer solchen Konstruktion von Kommunikation stößt das wohl geordnete Ursache- Wirkungsprinzip an seine Grenzen. Nicht lineare Rückkopplungseffekte lassen Entwicklungsprognosen an unberechenbaren Momentaufnahmen scheitern und wenn sich eine Einschätzung im Nachhinein als richtig erwiesen hat, war mit Sicherheit auch ein Quantum Zufall im Spiel.

Sich in einem solchen System für einen Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung zu entscheiden, ist kein leichtes und ein zudem risikoreiches Unterfangen. Man muss sich zwar nicht dem möglichen Vorwurf stellen, die Einschüchterungswirkung verifizierter Quellen für das eigene Schaffen auszunutzen, dafür aber dem Vorwurf der Oberflächlichkeit, weil man mit zeitgenössischen Phänomenen und Ereignissen auch immer indirekt den Glamour des Mainstreams nutzt (was übrigens nicht bedeutet, dass die Arbeit mit qualifizierten Quellen Underground ist).
Beide Vorwürfe prallen an einem fundierten und durchdachten künstlerischen Konzept ab. Aber ob das Konzept der nicht verifizierten, der gegenwärtigen Quelle in zehn oder 100 Jahren noch relevant ist, hängt davon ab, ob sich das Material UND die Form der künstlerischen Auseinandersetzung im Zuge der weiteren Entwicklungen von Kunst, Politik und Gesellschaft als relevant erwiesen haben.

Betrachtet man diese chaotischen, nicht linearen Entwicklungen im Realitäts- Virtualitäts-Kontinuum aus einer logischen Perspektive und versucht Ordnungsprinzipien aufzustellen wird man immer wieder scheitern. Die einzige Chance, in einem solchen System Entwicklungen zu begreifen und zu reflektieren liegt darin, sich in ihnen und mit ihren Mechanismen zu bewegen.

Der Psychologe und Unternehmensberater Peter Kruse bringt an dieser Stelle ein weiteres Stichwort ins Spiel, wenn er sagt:

Man kann das Internet abschalten, aber man kann es nicht beherrschen. Erst wenn man sich grundsätzlich von der Idee der Kontrolle verabschiedet, öffnet sich der eigentliche Mehrwert des Internets.4

Das Anerkennen des Kontrollverlustes in heutigen Kommunikationsmodellen bedeutet auf die Kunst übertragen nicht, dass man als Musikschaffender einen Freifahrtschein für das Außer-Kontrolle-Geraten der Konzeption erhält. Es bedeutet, dass der Kontrollverlust ein vorhandenes Phänomen ist, das in der Ausführung und Rezeption eines Werkes durchaus eine Rolle spielen kann und zwar auf eine ganz andere Art und Weise als es z. B. bei John Cage der Fall war, der Improvisationsmomente und Zufallsprinzipien als wesentliche Bestandteile seiner Kompositionsmodelle definierte – die Kontrolle über Ausdruck und Gestus liegt bei solchen Modellen immer noch beim Urheber, der als solcher existiert und präsent ist. Der Kontrollverlust von dem Peter Kruse spricht, findet auf einer anderen Ebene statt, nämlich auf der Ebene der Entstehung und der Rezeption. Was bedeutet es, als Komponist/in die Kontrolle zu verlieren? Es bedeutet, ein Werk zu öffnen, es für eine lebhafte Betätigung des Re- Tweets-, Comment- und Share-Buttons freizugeben. Wie das „Werk“ sich dann gestaltet, ist nicht absehbar und kann – gemäß der Tatsache, dass ein zeitliches Abstand-Nehmen von der Gegenwart unmöglich ist – erst im Nachhinein bestimmt werden.

4. Neue (Un)Ordnungen kreieren.
Beispiele für das Arbeiten im Kontrollverlust

Ein Beispiel hierfür ist die audiovisuelle Performance LIMBO LANDER5 von Jagoda Szmytka, die im Sommer 2014 bei den Darmstädter Ferienkursen aufgeführt wurde. Es handelt sich dabei um eine Studie, deren Ziel es war, mit einer Gruppe von Musikern eine Identität im realen und virtuellen Raum zu kreieren, deren Beiträge in Form von Posts, Klängen und Bildern Teil des Kompositionsprozess wurden. Das kompositorische Material entstand ebenfalls im realen und virtuellen Raum aus der Interaktion zwischen Komponistin und Musikern. Gegen Ende der Kompositionsphase startete Jagoda Szmytka einen Aufruf an zahlreiche Komponisten auf Facebook, vorhandene Arbeitenoder Teile aus sich gerade im Kompositionsprozess befindenden Stücken und Form von Video, Musik oder Text an sie zu schicken, die sie anschließend in die Performance integrierte.
Ein anderes Beispiel aus dem Schaffen Hannes Seidls zeigt Inseln des Kontrollverlustes in Entstehung und Aufführungssituation auf: in The Art of Entertainment bestimmte der Komponist im Vorfeld zeitliche Abschnitte, in denen Teile eines vorangegangenen Stückes aus dem jeweiligen Konzertprogramm integriert werden müssen. Diese Teile werden während der jeweiligen Aufführung aufgenommen und während der Aufführung von The Art of Entertainment an einem in der Partitur definierten Zeitpunkt abgespielt. Ebenso werden Teile aus The Art of Entertainment während der Aufführung eines anderen Stückes aus dem Programm simultan gespielt, wodurch nicht nur The Art of Entertainment selbst einem unvorhergesehenen Prozess ausgesetzt wird, sondern gleichzeitig auf Prozesse anderer Stücke einwirkt.6 Dieses Konzept ist ein Beispiel aus einer Synthese von Kontrolle und Kontrollverlust – zwar wird der Rahmen der Expansion des Werkes zeitlich bestimmt, jedoch ist nicht abzusehen, in welche Wechselwirkung die offen angelegte Form der Komposition mit den anderen Stücken (und den Reaktionen der Komponisten/innen) im Programm tritt.

Ein drittes Beispiel ist meine Aktion PUBLIC PRIVACY #CITY7, die im Oktober 2014 in der Bamberger Innenstadt stattfand. Basierend auf meiner für Soloinstrument, Zuspielung und Live-Performer konzipierten Reihe setzte ich mit PUBLIC PRIVACY #CITY einen musikalischen wie außermusikalischen Verweis. Ich entwickelte fünf Aktionen für den öffentlichen Raum von einer Plakatreihe über eine Performance und Klanginstallationen bis hin zur Aufführung von PUBLIC PRIVACY #1 Flute Cover (siehe Abb. 1) in einem Wohnungsfenster. Bei der Klanginstallation Private

Tweets beispielsweise habe ich über einen Abb. 2: Private Tweets (PUBLIC PRIVACY #CITY) längeren Zeitraum in Cafés und Bars Gespräche von Bambergern unbemerkt mitgeschnitten und diese anschließend von kleinen Lautsprechern abspielen lassen, die sich in acht in der Stadt verteilten Vogelkästen mit aufgedrucktem Twitterlogo befanden (siehe Abb. 2). Diese als künstlerische Hashtags bezeichneten Aktionen zum Thema Post Privacy und Public Privacy öffnete ich als Ausgangspunkt den Mechanismen des Sharings. Am Tag des Aktionsstarts war aus der Grundidee ein Team von 10 Künstlern aus unterschiedlichen Sparten entstanden, die sich in PUBLIC PRIVACY #CITY eingeklinkt haben und auf ihre Weise in Form von Performances, Installationen, Ausstellungen, eines Theaterstücks für Bar-Locations, Führungen und Objekten darauf antworteten, intervenierten, kommentierten und eigenständig entwickelten. Aus der teilweise stattfindenden Gleichzeitigkeit von Aktionen entstanden neue Verbindungen – so entschloss sich beispielsweise der spanische bildende Künstler Jesús Palomino während der in einer künstlerischen Führung stattfindenden Aufführung von PUBLIC PRIVACY #1 Flute Cover eine simultane Stör-Performance zu präsentieren. Er stellte sein Handy auf den Lautsprechermodus um und eine aufdringlich erklingende, fremdsprachige Stimme nahm plötzlich an seinem Ohr die Rolle einer Art Live-Kommentatorin zur laufenden Aufführung ein. Aus einer Keimzelle, aus dem Versuch einer Verifizierung einer gegenwärtigen Quelle über die Öffnung nach außen und über die Chancen des Kontrollverlusts, ist ein Projekt entstanden, das eine Stadt und eine Öffentlichkeit für einen Tag für eine Thematik auf vielfältigste künstlerische Weise sensibilisiert hat.

In allen drei Beispielen für einen Kontrollverlust im Entstehungsprozess und Rezeption einer Komposition ist der Verlust oder partieller Verlust der Urheberschaft Programm. Der Komponist oder die Komponistin tritt als Initialzünder in Vorschein und bietet ein Kommunikationsmodell an – im Laufe des Entstehungs- oder Aufführungsprozesses geschieht jedoch eine Multiplikation der Urheber, deren künstlerische Fähigkeiten zu einem rhizomatischen, verweisenden und lebendigen Objekt verschmolzen sind.

4.1 Ideen teilen. Social Composing

Rhizomatische und verweisende Strukturen sind jene Strukturen, die unsere Gesellschaft im Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum derzeit am stärksten prägen und verändern. Diese Veränderungen entstehen in und aus vorhandenen Kommunikationsmodellen und –strukturen und wirken auf die Gesellschaft zurück: sie implizieren einen gesellschaftlichen und künstlerischen Diskurs über die Definitionen von Präsenz, Anwesendheit und Gegenwärtigkeit. Oder aus der sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpsychologischen Perspektive betrachtet implizieren sie einen Diskurs der Begriffe Einsamkeit, Isolation und Gemeinsamkeit. Ist jemand einsam, dessen Kommunikation allein auf Facebook, Email und Skype stattfindet? Wie definiert sich Präsenz und Anwesenheit in einem Skype-Gespräch, wie verändern Onlineplattformen unser Sozialverhalten?

Diese neuen Kommunikationsformen schaffen darüber hinaus neue gesellschaftliche Bedürfnisse: das ANWESEND-SEIN, das PRÄSENT-SEIN, in Gestalt von WIRKEN und VERÄNDERN, von MITTEILEN und TEILEN in diesen Kommunikationsstrukturen.
Die Kommunikationsstrukturen und die von ihr geweckten Bedürfnisse finden sich ebenso in Globalisierungsmechanismen wie in Communities und führen zu einer kontinuierlichen Beschleunigung in der Entwicklung von netzartigen Verweisstrukturen und gesellschaftlichen Verzweigungen.

As Musikschaffender kommt man daher nicht umhin, die Gegenwart durch die Brille neuer Kontextualisierungen zu betrachten. Die Gegenwart als eine Zeit zu verstehen, in der Perspektiven und Blickwinkel freier als je zuvor angenommen werden können, in der sich künstlerische Arbeiten, insbesondere der jüngeren Generationen, immer stärker mit Verweisen, Rückbezügen und Beziehungen zu gesellschaftlichen Phänomenen durch die Wahl Ihrer Ausdrucksmittel auseinandersetzen – es ist eine Zeit, die zu multimedialen, musiktheatralen, performativen Setups und Kooperationen zwischen Künstlern und Usern geradezu aufruft – und der Bereich der sozialen Medien wird von der Neuen Musik gerade erst entdeckt.

Kompositionsstrategien, die sich mit Social Media oder Social-Media-immanenten Modellen beschäftigen und ihr Material daraus generieren bezeichne ich als Social Composing. Ein Komponieren in einem sozialen Umfeld, statt an einem asozialen Schreibtisch. Es gibt beim Social Composing wie bei bei der Social Media Art zwei grundlegende Ansätze:

Kompositionen, die Social Media als Material benutzen, bei dem der Kompositionsprozess an und für sich aber abgetrennt vom Dialog stattfindet. Und Kompositionen, deren Kompositionsprozess im Social Media stattfindet, so dass der Dialog als solcher Bestandteil des Werkes wird.
Beide Social Composing Formen haben gemeinsam, dass sie nur mit dem Internet und durch Onlineplattformen entstehen können, unterscheiden sich jedoch in ihren Arbeitsprozessen. Beide Formen haben auch gemeinsam, dass es sich um eine Arbeit mit oder in gegenwärtigen Kommunikationsmodellen handelt, deren Organismus darüber hinaus ein Intermedialer ist.
Ein Beispiel dazu: Meine 2013 begonnene Reihe Public Privacy ist eine Serien von Stücken für Soloinstrument, Youtube-Videos und Zuspielung, bei der ein Live-Performer mit Youtube-Instrumentalisten in einen Dialog tritt.8 Bisher sind drei Stücke in der Reihe entstanden, deren Arbeitsprozess der ersteren Form des Social Composing entspricht und der Kompositionsprozess abgetrennt vom Dialog im Social Media stattfindet. In Public Privacy spielen verschiedene Aspekte des Coverns eine zentrale Rolle. Laienmusiker oder Profis ersetzen die Melodiestimme beliebter Songs durch die gleiche Melodiestimme ihres jeweiligen Instrumentes und laden das Resultat anschließend bei Youtube hoch. Spannend ist dabei einerseits, wie mit Vorstellungen von Virtuosität und der Verwendung klassischer Instrumente im heutigen Alltag umgegangen wird. Gleichzeitig geben die Videos aber auch Aufschluss darüber, wie die Begriffe des Privaten und des Öffentlichen definiert werden, wieviel ein Spieler über sich und seinen Lebensraum erzählt, über Ästhetik, über die Form der Präsentation und deren Rückwirkung auf die Musik und über das Gegenwärtige und das Abwesende einer musikalischen Performance.

Jeder Musiker, der ein Stück aus Public Privacy live aufführt, muss vorher ein kurzes Video in beliebiger Qualität aufnehmen, in dem er oder sie in den eigenen vier Wänden oder einem anderen für den jeweiligen Spieler passenden Ort ein Youtube-Video simuliert. Dieses Video wird in Ausschnitten in das Zuspielvideo mit den Youtubern eingefügt. Jedes Mal, wenn ein anderer Musiker das Stück aufführt, wird ein Youtuber aus dem Video gelöscht und durch das simulierte Video des Live-Performers ersetzt, so dass nach einer gewissen Anzahl von Aufführung durch verschiedene Musiker (ca. zwischen 16-18 Stück) die Youtuber verschwinden und nur noch die Live-Interpreten in ihren vier Wändern zu sehen sind. Danach würde ich im nächsten Schritt wieder Youtuber als Rezipienten fragen, das Stück oder ein beliebiges anderes mit dem Zuspielvideo bei sich zu Hause aufzuführen, so dass wieder Youtuber im Video erscheinen, den Entwicklungsprozess des Stückes auf diese Weise jedoch mitnehmen. D.h. die Public Privacy Stücke werden einem kontinuierlichen Transformationsprozess ausgesetzt, der eine Entwicklung von einem ursprünglich vom Social Media abgetrennten Kompositionsprozess zu einem in Social Media stattfindenden Arbeitsprozess durchläuft und keinen Doppelstrich aufweist. Statt dessen greift das Stück auf die Rezipienten selbst über, die Bestandteil des Stückes werden können.

5. Senden und empfangen.

Die Beispiele für Social Composing oder das Arbeiten mit dem Kontrollverlust zeigen Arbeitsweisen- und Prozesse auf, die mitten im Spannungsfeld einer inkonsistenten Gegenwart stattfinden. In Anbetracht der Möglichkeiten für gegenwartsreflektierende Themenfelder und Kommunikationsmodelle in einer Komposition sind diese Beispiele nur ein Ausschnitt eines unüberschaubaren, vielleicht sogar unendlichen Gesamtbildes, einer unendlichen Projektion, die sich wiederum aus unendlich vielen Projektionen von Wirklichkeiten zusammensetzt. Bei allen neu entstehenden Phänomenen in einer Gesellschaft soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass auch das innere Erscheinungsbild „neu“ ist. Wenn man nämlich ein neues Phänomen, seine Erscheinungsform sowie das Kommunikationsmodell abstrahiert, legt man immer gleiche Grundthemen frei, die seit Jahrhunderten den Menschen in seinem existentiellen Dasein begleiten: Einsamkeit und Isolation, zersplitterte Hoffnungen und unerfüllte Sehnsüchte, die vielen Geburten und Tode einer menschlichen Geschichte, der Wunsch nach Überwindung des Körpers und der Wunsch nach Unendlichkeit. Themen, die sich niemals ändern werden, die sich aber immer wieder aufs Neue zu Dimensionen einer gegenwärtigen Landschaft verhalten. Und dieses Verhalten zueinander ist der entscheidende Moment, das Phänomen, das die Gegenwart prägt und definiert.

Die Schnelligkeit der Gegenwart und die Langsamkeit, mit der eine Komposition vom ersten Gedanken bis zum bis hin zur Aufführung wächst, scheint der größte Spalt zu sein, der zwischen Komponisten und der Gegenwart klafft. Ein Spalt, der jedoch irrtümlicherweise häufig mit Inflexibilität der Gattung Komposition betitelt wird und folgernd als einziger Lösungsweg für das zeitliche Dilemma ein Standard- Kompositionsmodell erscheint, das perfektioniert werden kann.

Komponieren wird immer einen zeitintensiven Arbeitsprozess implizieren, da die Kommunikation nicht direkt zwischen Komponist und Rezipient stattfinden kann. Die Entscheidung über Flexibilität oder Inflexibilität einer Komposition findet jedoch im Kopf der Musikschaffenden statt. Sobald die Entscheidung getroffen wird, sich mit den Kommunikationsmodellen der Gegenwart auseinanderzusetzen, kann das Entwickeln neuer Kompositionsmodelle ebenso etabliert, trainiert oder perfektioniert werden, wie die Perfektionierung eines einzigen Modells, dessen Botschaft aber dementsprechend auch immer nur die gleiche sein kann. Die Crux ist letztlich nicht das immer gleiche Modell, sondern der dahinter liegende Anspruch, dass dieses immer gleiche Modell unterschiedliche Botschaften sendet. Das ist übrigens ein Phänomen, das Albert Einstein so formuliert: Immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, ist die Definition von Wahnsinn.

Das Erfinden von gegenwartsbezogenen Kommunikationsmodellen öffnet einen wesentlich reicheren und vielschichtiger angelegten Entwicklungsraum. Und bei aller erforderten Flexibilität, Prognose-, Reflektions- und Risikobereitschaft und einer notwendigen unökonomischen Handlungsweise für Komponisten lockt am Ende ein höchst attraktives Ziel:

Die Unschärfe der Gegenwart in eine scharfgestochene Momentaufnahme zu verwandeln und den Prozess der Verifizierung eines Materials und Themenfeldes in der Ist-Zeit mittels aller Existenzen im Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum selbst auszulösen. Das bedeutet die Möglichkeit für ein höchstes Maß an künstlerische Freiheit.

Quellen:

[1]Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, C.H.Beck, München 2001, S. 135-142.

[2]Paul Milgram, H. Takemura, A. Utsumi und F. Kishino: Augmented Reality: A class of displays on the reality-virtuality continuum, in: ATR Communication Systems Research Laboratories (Hrsg.): Telemanipulator and Telepresence Technologies, Kyoto 1994, S. 282-292, hier S. 282.

[3] Nathalie Huth, Tobias Arns, Lars Budde: Soziale Netzwerke 2. Auflage Eine repräsentative Untersuchung zur Nutzung sozialer Netzwerke im Internet, Studie der BITKOM (Hrsg.), Berlin 12/2011, S. 7. www.bitkom.org/files/documents/SozialeNetzwerke.pdf, zuletzt aufgerufen am 02.09.2014

[4] Peter Kruse: Kontrollverlust als Voraussetzung für die digitale Teilhabe, in: Herbert Burda, Mathias Döpfner, Bodo Hombach, Jürgen Rüttgers (Hrsg.): 2020 – Gedanken zur Zukunft des Internets, Essen 2010, S. 67-71, hier S. 69.

[5]Jagoda Szmytka: LIMBO LANDER, http://www.jagodaszmytka.com/limbo-lander_about.html. Zuletzt aufgerufen am 25.10.2014.

[6]Hannes Seidl: The Art of Entertainment, Edition Juliane Klein. Eine detaillierte Beschreibung zur Funktionsweise des Stückes findet sich unter: http://www.editionjulianeklein.de/files/works/annotations/seidl_AoE_erklaerungsseit e.pdf (zuletzt aufgerufen am 25.10.2014)

[7]Brigitta Muntendorf: PUBLIC PRIVACY #CITY

[8]Brigitta Muntendorf: Public Privacy (2013-2014). Bisher existieren Public Privacy #1 Flute CoverPublic Privacy #2 Piano CoverPublic Privacy #3 Trumpet Cover. Notenmaterial und Erläuterungen unter www.brigitta-muntendorf.de (zuletzt aufgerufen am 25.10.2014)

[9]Weitere Beispiele für Social Media Kompositionen: Jagoda Szmytka: LIMBO LANDER (2014), sky-me, type-me (2011). Sergej Maingardt: It’s Britney Bitch (2013), Richmond & Chladil Overheard (2008-2010).