brigitta muntendorf

Mehr Chaos, bitte! (2018)

Zeitgenössische Musik und Kultur der Digitalität

Klangforum Wien, Agenda 2018/19. Über Zeitgenössische Musikproduktion in der Kultur der Digitalität (veröffentlicht am 18.09.2018) / about contemporary music productions within the digital condition (published 18.09.2018)

Museal oder vital  –  die Neue Musik entscheidet selbst 

Wenn ich die derzeitigen Verschiebungen im künstlerischen Schaffen, in dem Verständnis von Interpretation und Ensemble, in der Rolle der Rezeption und Programmierung in der zeitgenössischen Musik denjenigen Verschiebungen gegenüberstelle, die sich während der gerade stattfindenden digitalen Revolution in Gesellschaft und Kultur abspielen, dann steckt die Zeitgenössische Musik mitsamt ihren Apparaten noch in den Kinderschuhen. 

Wir befinden uns in einer Kultur der Digitalität[1], d.h. in der Durchdringung des Analogen, des Physischen und Materiellen mit digitalen Infrastrukturen. In dieser fundamentalen Wechselwirkung (in Anlehnung an die vier Grundkräfte der Physik) generiert der ungehinderte Transfer neue Arbeits-, Produktions- und Rezeptionsprozesse wie auch die immer wieder neu zu verhandelnde Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns. 

Referentialität als Kommunikationsform, die Herausbildung neuer Gemeinschaftsmodelle im Spannungsfeld von Singularität und Diversität und die konkrete Auseinandersetzung mit dem rezipierenden Subjekt als die Sichtbarmachung von Idee und Resonanz, sowie Algoritmizität bilden dabei die vier wichtigsten Spannungsfelder für soziale und kulturelle Entwicklungen.  

Die Zukunft der Neuen Musik, ihre Relevanz in künstlerischer und sozialer Bedeutung entscheidet sich daran, ob sie sich innerhalb oder außerhalb dieser Prozesse verortet und ob Schaffende, Interpretierende und Fördernde bereit sind, bestehende Strukturen nicht nur zu erweitern, sondern grundlegend neu zu denken. Andernfalls liegt es auf der Hand, dass sie ihr Dasein als museale und künstlich am Leben gehaltene Kunstform fristet, in der die innewohnende Widerständigkeit als höchste Form der Anpassung in einem kultivierten und abgeriegelten Diskurs über Gesellschaft und Kultur erscheint.  

Komponieren in Referenzsystemen: Publikum und Performanz

Dass KomponistInnen und InterpretInnen, insbesondere der jüngeren Generation, heute zunehmend interdisziplinär, davon einige auch interaktiv und ein noch kleinerer Anteil kollektiv arbeiten, hat in der Neuen Musik noch immer singulären und phänomenologischen Charakter. Das ist daran erkennbar, dass die Einbeziehung von Elektronik, Projektionen, performativen Elementen, speziellen Bühnen- und Aufführungssituationen und die für die Realisierung benötigten Probenkapazitäten die Konfiguration von bestehenden Ensembles und ihrer Probenorganisation, wie auch die meisten Festivals in ihrer Ausstattung und Programmierung an strukturelle und finanzielle Grenzen stoßen lassen. Spannend ist dabei zu beobachten, wie KomponistInnen und Ensembles sich zunehmend Plattformen außerhalb der Neuen Musik Szene erschließen oder sich dadurch Abhilfe schaffen, dass eigene Produktionsstrukturen entwickelt werden.

Gleichermaßen beschreibt die zu beobachtende Entwicklung hin zu transmedialen, digitalen, theatralen und performativen Produktionsformen ein kontextorientiertes Verständnis von Musik, das sich auf Basis von referentiellen Verfahren konstituiert. Referenzsysteme bestimmen unsere Kommunikation, sind die Strategie im Chaos unterschiedlich motivierter exorbitanter Bereitstellung von Informationen und manifestieren durch Selektion und Zusammenstellung, durch Komposition, sinnstiftende und vor allem gegenwärtige Bezugssysteme. Referenzsysteme sind das vorherrschende produktionsästhetisches Modell in der zeitgenössischen Kunst[2] und zeigen ihre Relevanz vor allem darin, dass das rezipierende Subjekt – das Publikum – immanenter Bestandteil ist. Referentielle Kunst hat zur Bedingung, dass die Quellen und Bedeutungen, des gesamten künstlerischen Apparates sichtbar gemacht werden – die Verortung in der Gegenwart und in Wechselwirkung mit Tradition und Kontext erzeugt somit Performanz.

Die massive Verschiebung in der Rollenzuschreibung von Autorenschaft und Publikum zeigt sich hier ganz deutlich. Das rezipierende Subjekt kann nicht mehr ignoriert werden, wenn die das Erleben der kollektiven Rezeption Performanz und Sichtbarmachung einer künstlerischen Haltung voraussetzt.

Plädoyer für die Community of Practice

Wenn wir davon ausgehen, dass Referentialität in der kompositorischen Arbeit den Ansatz für einen neuen Kompositionsbegriff darstellt, dann könnte die Community of Practice[3] in ihrem referentiellen, reflexiven und gemeinschaftlichen Ansatz das dazugehörige Arbeitsmodell darstellen. 

In der von Jean Lave und Étienne Wenger definierten Gemeinschaftsform manifest sich, dass es weniger die homogenen Gemeinschaften sind, die sich heute herausbilden als jene, in denen die Produktion von Differenz und Gemeinsamkeit gleichzeitig stattfindet.[4]

Die Community of Practice ist als Gemeinschaftsmodell für die Kreation deshalb so spannend, weil sie ein dynamisches Praxisfeld beschreibt, in der Menschen mit unterschiedliche Fähigkeiten zugunsten eines definierten Zieles zusammenkommen und Kreation und reflexive Interpretation Hand in Hand gehen. Für die zeitgenössische Musik würde ein solches Arbeitsmodell vielen derzeitigen Entwicklungen Raum für Entfaltung bieten und die künstlerische Qualität interdisziplinärer Arbeiten anheben. 

So bauen immer mehr MusikerInnen ihre performativen Qualitäten aus und kreieren spezifische Bühnenpersönlichkeiten, deren Interpretation über eine rein musikalische hinaus geht. Das Entwickeln und Implementieren dieser Fähigkeiten in einer wie auch immer zusammengesetzten Gemeinschaft angesichts eines definierten künstlerischen Ziels kann in einer Community of Practice ihren Höhepunkt erreichen. Ein bestehendes Ensemble kann in der Einbeziehung von KomponistInnen und KünstlerInnen anderer Professionen die Community of Practice ebenso verkörpern, wie Gruppen, die sich hinsichtlich eines konkreten künstlerischen Ziels formieren. Da sich eine solche Arbeitsweise nicht mit dem Standard von vier Proben, GP und Konzert realisieren lässt, braucht es Infrastrukturen, in denen längere Arbeitszeiträume mit benötigter Ausstattung möglich sind. Eine Anknüpfung der Communities of Practice an bestehende Häuser, z.B. in Form von nationalen oder internationalen Residenzprogrammen könnte die produktiven Kräfte verbinden und Lebendigkeit und Gemeinschaftlichkeit im gegenwärtigen Schaffen kultivieren. Ebenso würden dezidierte Grundförderungen für Ensembles und andere Kollektive für die Arbeit in Communities of Practice eine künstlerische Selbstbestimmtheit im Umgang mit derzeitigen Problematiken innerhalb der Kunst und auch der Neuen Musik wie Postkolonialismus, Exotismus oder die Genderproblematik bewirken, deren Auseinandersetzung von innen heraus stattfinden kann. Der Punkt ist folgender: Wenn man sich als eine Community of Practice mit einem gemeinsamen Ziel begreift, dann ist der Weg dorthin einer, in dem die gemeinschaftliche Produktion von Diversität dem Charakter des Ausstellens grundlegend widerspricht. Wenn der Arbeitsprozess selbst schon ein gemeinschaftliches Happening ist, dann kann das Resultat kein Hierarchisches sein.

Wenn man das Spannungsgefüge Referentialiät, Gemeinschaft, rezipierendes Subjekt und Algoritmizität auf seine Grundkräfte hin untersucht, dann sind es das Chaos der Informationen und das Herstellen von sozialer Bedeutung, die in Wechselwirkung treten. 

Die meisten Förderstrukturen im Bereich der zeitgenössischen Musik lassen Chaos (in Form des Unbekannten, als Arbeitsweise und Formierung, deren Output nicht bestimmbar ist) gar nicht erst zu. Ich behaupte sogar, dass Chaos als kreative Grundlage für das lebendige Experiment im Schaffens- und Erarbeitungsprozess, sowie als struktureller Bestandteil von Festivals und Institutionen verhindert wird. Verhindernd wirkt dabei z.B. das institutionelle Aufrechterhalten von Schöpfermythen oder die Festlegung von Förderbedingungen, in denen Kunst und Musik von außen auferlegt wird, sozialpolitische Aufgaben zu übernehmen, ohne darauf zu vertrauen, dass KünstlerInnen denkende und reflektierende Individuen sind. Verhindernd wirkt auch, mittels aneinander gereihter Uraufführungen eine Eventkultur aufrechtzuerhalten, die ergebnisorientiert „Produkt“ und Prozess komplett voneinander abkoppelt und von vorn herein eine Dialektik zwischen einem künstlerischen Wert und seiner Kurzlebigkeit evoziert. Das sind Symptome einer leblosenKultur – und dabei bedeutet doch „cultura“, bzw. „colere“ genau das Gegenteil, nämlich „urbar machen“. 

Die digitale Revolution zeigt uns gerade, in welchem Maße chaotische, nicht-lineare und reziproke Prozesse Kreativität, Produktivität, Gemeinschaftlichkeit, Resonanz und Lebendigkeit hervorbringen. Ob in der Neuen Musik lebendige, kollektive und dialogische Formate künstlerisch und strukturell – wie in der Community of Practice – etabliert werden, bestimmt, ob wir zukünftig in einer vitalen und gegenwärtigen oder musealen, für die Gegenwart irrelevanten Musikkultur agieren. 


[1] Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Edition Suhrkamp, Berlin 2016

[2] André Rottmann, „A Conversation with André Rottmann and John Knight.“ Dezember 2011, Los Angeles, in: John Knight, a work in situ, Frankfurt am Main: Portikus 2013

[3] Etienne Wenger, „Cultivating Communities of Practice: A Guide to Managing Knowledge“, Harvard Business School Press, Boston 2009

[4] Jeremy Gilbert, „Democracy and Collectivity in an Age of Individualism“, 2013, Pluto Books, London