brigitta muntendorf

Music to kin (2019)

Im Wechselspiel von Verwandtschaft und Referenz

„Making kin“ – „sich verwandt machen“. Donna Haraway, Biologin, Wissenschafts- und Geschlechterforscherin, entwirft in ihrem Buch „Staying with the trouble“ („Unruhig bleiben“) eine Gesellschaft von Zukunftswesen, die sich auf produktive und eigensinnige Art mit Tieren, Pflanzen, Korallen (den ĂŒbrig gebliebenen) und Bakterien verwandt machen und der Herausbildung und Weiterentwicklung von Sinnesrezeptoren und Wahrnehmungsapparaten statt der Vermehrung folgen. Ihre zugleich gesellschaftspolitisch und ökologisch provokante wie revolutionĂ€re These „Making kin. Not babies.“ basiert auf einem Verwandtschaftsbegriff im Sinne der Zugewandtheit (und nicht im Sinne der Familie), als individuell und kollektiv und quer zu regionalen und ideologischen Differenzen gelebte Verbindung zu anderen Daseinsformen.

In diesem Zusammenhang ist auch die britische Anthrpologin Marylin Strathern zu nennen, die den Wandel der Wortbedeutung von„relatives“ im britischen Englisch beschreibt: Wurde es im Sprachgebrauch bis zum Ende des 16.Jh. im Sinne von „logische Verbindung“ benutzt, als Abstammung des lateinischen Wortes „relativus“ – eine „Referenz haben oder in Relation stehend“, und vom lat. „relatus“ – Partizip Perfekt von â€žreferre“, d.h. „etwas zurĂŒckbringen, widerhallen“, in Englischen “to refer”, auf etwas verweisen, erfolgte im Laufe des 17.Jh die Eingrenzung Verwendung des Wortes fĂŒr „Familienmitglieder“.

Haraways Verwandtschaftsbegriff weist eine interessante Analogie zu den Charakteristiken heute entstehender Kunstformen, Netzwerke, Kommunikations- und Arbeitsmodelle in Folge der zunehmenden Durchdringung unseres Lebens und unserer Umwelt mit neuen Medien und Technologien auf: Differenzen werden hier nicht negiert, sie werden ausgelebt.

Die zeitgenössische Musik ist als Kunstform ebenso Teil dieser Durchdringung. Es muss als SelbstverstĂ€ndlichkeit gehandelt und verstanden werden, dass das Ausleben von Differenzen den Kompositions- wie Interpretationsbegriff kontinuierlich erweitert und transformiert. Es sind die dabei neu entstehenden Formate und Referenzen, „Besetzungen“ und ihre Wechselspiele mit realen wie digitalen PrĂ€sentationsrĂ€umen, die auf den Kompositionsbegriff zurĂŒckwirken und die bedingen, dass Musik als Kunstform den Herausforderungen unserer Zeit standhalten und wirken kann.

Daneben erwĂ€chst auch schlichtweg eine Neugier seitens der KomponistInnen und Performenden (bewusst nicht „InterpretInnen“, dieser Begriff impliziert eine Hierarchie, die heute in vielen Kompositionen bewusst aufgehoben wird) andere Konstellationen zwischen Idee und Instrumentarium (Instrument, Körper, FĂ€higkeiten, Persönlichkeit) auszuloten, zwischen Musik und anderen Formen und Verfahren der Kommunikation. Blicke ich auf meine LehrtĂ€tigkeit an der Musikhochschule in Köln und der Praxis unserer lebendigen und DiversitĂ€t einfordernden Lehrkultur, kann ich ein LĂ€cheln beim Blick in das Studienbuch nicht verbergen, belehrt es mich doch, dass ich „Instrumentale Komposition“ unterrichte. Abgesehen davon, dass eine Änderung dieses Begriffs eine meiner ersten Amtshandlungen ist, beschreibt es das Problem, dem wir in Anbetracht der rasanten Entwicklungen der digitalen Revolution gegenĂŒberstehen: Das Umdenken dauert ĂŒberall dort lange, wo sich ĂŒber Jahre und Jahrhunderte institutionelle, aber vor allem auch soziale Strukturen herausgebildet haben. Diese Strukturen sind Konsequenzen eines kĂŒnstlerischen VerstĂ€ndnisses, einer Kultur und ihrer SozialitĂ€t. Die Hochschule, die Oper, die Philharmonie, das Museum, das Orchester sind EntĂ€ußerungen dieser Historie und es braucht zu allererst neue Anbindungen an diese Orte und temporĂ€re Verschmelzungen mit unterschiedlichsten Strukturen, reprĂ€sentiert von einzelnen KĂŒnstlerInnen, Ensembles oder gemischten Kollektiven, die sich aus einem zeitgenössischen Denken ĂŒber Musik derzeit herausbilden und mittels Residence-Konzepten (d.h. mittels eines auf Zeit und Ressourcen angelegten Antauschs) unterschiedlichste Impulse in eine Institution senden und von ihr empfangen können. In Deutschland beispielsweise gibt es erschreckend wenig Modelle fĂŒr die Anbindung freier Kollektive an bestehende Institutionen. Es geht hierbei nicht ausschließlich darum, fĂŒr jegliche Form transmedialer und interdisziplinĂ€rer Forschungen entsprechende Arbeitsbedingungen zu schaffen, es geht vor allem darum, es geht darum, an einer entscheidenden Stellschraube zu drehen: dem Begriff des sich-verwandt-machen, Music to kin.

Was fĂŒr ihre Infrastruktur gilt, ist der kĂŒnstlerischen Arbeit immanent:

Gegenwartsmusik inmitten von inter-, trans- oder postmedialen oder inter-, trans- oder multidisziplinĂ€re Kontexten kann nur dann als relevante Kunstform im Sinne einer kĂŒnstlerischen Setzung in diesen Kontexten bestehen, wenn sie sich mit dem Anderen (einer Technologie, einem Medium, einer Kunstform und den damit zusammenhĂ€ngenden Verfahren und sozialen, politischen Implikationen) im Sinne Haraways verwandt macht.

Doch welcher Philosophie folgt eine solche Verwandtschaft?

  1. Verwandt machen meint in diesem Kontext, mit dem Fremden des Anderen und nicht mit dem offensichtlich Gemeinsamen des Anderen eine Beziehung einzugehen, um ein neues UrsÀchliches zu schaffen.

    Es kann kein neues UrsĂ€chliches geschaffen werden, wenn allein der „kleinste gemeinsame Nenner“ eine Verbindung dominiert, weil nicht die Gleichheit Diskurs, Transformation und Entwicklung evoziert, sondern die Differenz.

    Die Gleichheit bildet das Vertraute und ist somit rĂŒckwĂ€rts gewandt – im verwandt-machen mit der Differenz wird eine Utopie formuliert, d.h. hier beginnt ĂŒberhaupt erst das Experiment. Das Verharren im kleinsten gemeinsamen Nenner lĂ€sst in Zusammenspiel von Musik, ihrer Erzeugung und ihrer ReprĂ€sentation in medialen Kontexten keine gegenseitige Durchdringung zu, sondern allenfalls Dekoration, eine Verzierung des einen mit dem anderen in variierender Redundanz.

  2. Das setzt wiederum voraus, dass man die DiversitĂ€t aller in einer Komposition wirkenden Medien und ihrer Parameter in großer SelbstverstĂ€ndlichkeit als etwas Ganzheitliches betrachtet und sie als natĂŒrlich gegebene Möglichkeiten begreift, mittels physikalisch beschreibbarer Produktionstechniken (in diesem Falle die Komposition und ihre Mittel) etwas herzustellen, das keine physikalischen Eigenschaften hat:

    „Der Mensch verdankt seine menschliche Existenz der Möglichkeit zur Verwendung von Medien, denn weil es Medien gibt, lebt der Mensch nicht ausschließlich in der physischen Natur, sondern auch in einer Kultur.“
    Der deutsche Philosoph Lambert Wiesing beschreibt hier nicht nur, dass Medien ein Teil der Natur des animal symbolicum sind und die Selbst- und Weltbeziehung menschlicher Subjekte prĂ€gen. Mit der Überwindung der physischen Natur spielt er auch auf den Begriff des „Bildobjekts“[1] an, das im Gegensatz zum BildtrĂ€ger (Rahmen, Papier, Monitor, Projektor) nicht den Gesetzen der Physik unterliegt, sondern eine Beziehung zwischen dem Betrachter und dem, was auf dem Bild zu sehen ist, definiert. Das Medium ist demnach eine Möglichkeit zur Überwindung der menschlichen Physis und ermöglicht das Werden von Kultur.

    Einen Ă€hnlichen Gedanken scheint der Psychoanalytiker Christopher Bollas mit der Auffassung zu vertreten, das Internet sei „jetzt schon Teil des Stoffes (…), aus dem das eigene Sein besteht“.

    Weiter beschreiben FĂ©lix Guattari und Howard Slater eine postmediale Praxis als „vernetzte Praktiken leidenschaftlicher Individuen und Gruppen, die in lokalen und translokalen Kontexten arbeiten, intuitive Schnittstellen anritzen und Medien samt ihrerInhalte kritisch beĂ€ugen“ und fĂŒhren dabei ein wichtiges Moment ein: Die Medien können, mĂŒssen sogar innerhalb solcher Prozesse mehr oder weniger tĂ€glich gewechselt werden.

    Wir brauchen dieses SelbstverstĂ€ndnis, dass Komposition heute bedeutet, den Forschungsgegenstand Musik und Klang divers zu gestalten und dass die dafĂŒr zur VerfĂŒgung stehenden Ressourcen gegebene Objekte der Auseinandersetzung sind, ebenso wie eine Saite auf einem Streichinstrument ein gegebenes Objekt der Auseinandersetzung darstellen kann. Dieses SelbstverstĂ€ndnis muss auch implizieren, in der Musik – wie in der bildenden Kunst – den Blick viel stĂ€rker auf individuelle kĂŒnstlerische Arbeit zu richten und nach Kriterien zu beurteilen, die von der Arbeit selbst definiert werden.
  1. Komponieren in Referenzsystemen. Ein Beispiel fĂŒr MUSIC TO KIN.

Referenzielle Systeme sind Beziehungssysteme.

Im Gegensatz zur Collage wohnt dem Referenzsystem eine immanente FlexibilitĂ€t inne – es ist ein dynamisches System, in dem sich Bedeutungen immer wieder verschieben können.

Ein weiteres zentrales Kriterium fĂŒr ReferentialitĂ€t ist Performanz. In der Collage (von frz. coller = kleben, colle=Leim abstammend) ordnen sich die Bedeutungen der Einzelteile der Konstruktion einer neuen Wirklichkeit unter, teilweise werden ursprĂŒngliche Bedeutungen sogar komplett nivelliert zu Gunsten der Entstehung eines „neuen Ganzen“.  Das Ziel der Collage und der Montage ist immer das „neue Ganze“, der Ursprung liegt immer in Formen der Dekonstruktion und Fragmentierung. D.h. im Umkehrschluss auch, dass die Wirklichkeit (ursprĂŒngliche Bedeutung) der genutzten Fragmente in der Montagetechnik dekonstruiert werden und als Modifikation in der Neukonstruktion des Kunstwerks erscheinen.

Charles Ives 2. Symphonie oder der dritte Satz Berios Sinfonia zĂ€hlen zu den populĂ€rsten Beispielen der Musikliteratur. Dabei werden musikalische Zitate in ein neues musikalisches Umfeld eingeordnet, dessen Stilistik die Einbettung prĂ€gt. Oder im Falle Berios bilden die Summe der Zitate unterschiedlichster Herkunft eine klangliche Überlagerung, die die Überlagerung selbst, die Erzeugung von Intransparenz und Gleichzeitigkeit thematisiert.

Adorno sei hier zumindest kurz geduldet: „Der Schein der Kunst (…) soll zerbrechen, indem das Werk buchstĂ€blich, scheinlose TrĂŒmmer der Empirie in sich einlĂ€ĂŸt, den Bruch einbekennt und in Ă€sthetische Wirkung umfunktioniert.“[2]

„Die Konstruktion reißt die Elemente des Wirklichen aus ihrem primĂ€ren Zusammenhang heraus und verĂ€ndert sie soweit in sich, bis sie von sich aus abermals einer Einheit fĂ€hig werden, wie sie draußen hetreonom ihnen auferlegt ward und drinnen nicht weniger ihnen widerfĂ€hrt.“

Die Collage trennt das Material von ihrem Ursprung – ein verwandt-machen mit dem Umfeld ist hierbei nicht möglich. Es entsteht zwar etwas „neues Ganzes“, aber als ein in sich geschlossenes System. In einem referentiellen System hingegen ist gerade die Aufrechterhaltung vorhandener Bedeutungen und das Verweisen auf Quellen Voraussetzung dafĂŒr, ein flexibles Netzwerk von Bedeutungen zu erstellen und neue Beziehungen zwischen einem Material mit und ĂŒber die eigene Beschaffenheit hinaus einzugehen. Die KomplexitĂ€t von Bedeutungen, die Verzahnung von Verweisen untereinander und zu anderen kulturellen, politischen oder sozialen VerhĂ€ltnissen und somit die Gesamtheit der Kontextualisierungsmöglichkeiten gerade in den vorhandenen Bedeutungen sind dabei die ausschlaggebenden Kriterien. Felix Stalder fĂŒhrt diesen Gedanken noch weiter, in dem er schreibt:

„In ein und demselben Akt werden sowohl die eigene, neue Position als auch der Kontext, die kulturelle Tradition, die mit der eigenen Arbeit weitergeschrieben wird, performativ, das heißt durch das eigene Handeln im Moment, konstituiert.

Referenzielle Systeme sind Beziehungssysteme. Sie loten alle existierenden Beziehungen in einer kĂŒnstlerischen Arbeit aus und bieten uns MöglichkeitsrĂ€ume, in denen jede Entscheidung des Sich-Verortens, des bewussten Bezugnehmens, des Verweigerns, Intensivierens, Selektierens oder des Sichtbarmachen von Beziehungen. Referenzsysteme bieten uns MöglichkeitsrĂ€ume, in denen jede Entscheidung eine Entscheidung darĂŒber ist, was wir in einem kĂŒnstlerischen Kontext gerade vermitteln möchten, wohin wir den Blick, worauf wir das Gehör richten wollen und womit wir uns verwandt machen möchten.

[1] Husserl: Das physische Bild ist das reale – also wahr­genommene – Objekt, z.B. der be­arbei­tete Marmor, die be­malte Lein­wand oder das be­druckte Papier – also das Re­prĂ€sen­tieren­de. Das Bild­objekt ist hin­gegen das­jenige, das man auf dem Bild sieht, kurz: die Re­prĂ€sen­tation

[2] Adorno, Theodor W: „Ästhetische Theorie“, S. 232