brigitta muntendorf

Echoaches (2020)

Über die Eigenregie des Schmerzes

Das Musiktheater des Gegenwärtigen. Dabei geht es nicht nur um die Gegenwart als einen temporalen Begriff, als das Hier und Jetzt und zwischen Vergangenheit und Zukunft in jedem Moment vergehende. Das Gegenwärtige ist das Anwesende.  Und somit liegt das Gegenwärtige im Auge des Betrachters. Das Gegenwärtige erfährt in diesem Auge nicht nur eine relative, sondern auch selektive Rezeption – es kann als memento mori die eigenen Endlichkeit vermessen, als Referenzpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft gesetzt oder als Parameter einer Gleichzeitigkeit und sogar des Anachronismus vernommen werden. 

D.h., wenn wir über Musiktheater des Gegenwärtigen sprechen, dann sprechen wir darüber, ob wir das Spielfeld Gegenwart in Form eines wie auch immer gearteten Narrativs bewusst vorgeben und somit auch begrenzen, ob wir Gegenwart geschehen lassen und den Dynamiken von An- und Abwesenheiten ihren Lauf lassen oder ob wir die Gegenwart künstlerisch vermessen und als Spiegelbild der Auseinandersetzung definieren.

Alle drei Vorgehensweisen können zu vielfältigen Formaten führen, ebenso reflektierend wie trivial begleitend, doch können sie die Oper nicht umgehen. D.h. eigentlich können sie die Messe nicht umgehen, das Gesamtkunstwerk schlechthin. Nicht nur, dass Architektur, Malerei, Musik (und sogar räumliche Musik), Weihrauch, Wein, Ritual und Theater hier Hand in Hand gehen – für den Gläubigen ist das Realität und nicht Aufführung. Doch während die Messe als Ritual religiöse Verbindlichkeiten einfordert und die Oper noch immer auf der Titanic stattfindet ist das Musiktheater des Gegenwärtigen immer der Versuch einer Eigenregie. 

Kluge Sie haben gesagt, daß Sie eigentlich über Opern nicht weinen können.

Muntendorf  Ich gerate dabei immer wieder in einen Zustand der Dissoziation und beobachte mich und die Oper.  

Kluge Trotzdem versuchen Sie, über Opern eine Antwort zu finden hier auf dem Kongreß der…

Muntendorf …apathischen Gesellschaft auf der Suche nach Gegenwärtigkeit, die ich unter dem Namen EchoAche ausrufe. 

Kluge Was ist EchoAche?

Muntendorf  Es ist ein Musiktheater des Gegenwärtigen in Form einer Gesellschaft, die Schmerz, Verlust und Trauer tagtäglich erleidet und gleichzeitig damit konfrontiert ist, dass diese Zustände in ihrem kapitalistischen System, sofern man dieses Wort noch benutzen darf, abstrahiert und unsichtbar gemacht werden. Es ist eine Gesellschaft, die dem Vorgang des Erfahrens ihres eigenen Echos beraubt und der stattdessen die Rolle des Zwangsechos aufoktroyiert wurde.  Sie wird gezwungen, sichtbar zu sein, kreativ zu sein, zu produzieren, sich zu verhalten, leistungsfähig zu sein – sie ist die Loopbegleitung in dem weltumfassenden Gesamtkunstdrama Caremen, gekümmert wird sich hier jedoch in erster Linie um die Anzahl der verkauften Tickets. Oder anders ausgedrückt – darum, dass der Loop kein Echo werden kann. EchoAches möchte sich aus dieser Gefangenschaft und Dissoziation befreien, sich erfahren, sich im Sinne Donna Haraways verwandt machen und Prozesse erleben, durchleben, konstituieren. Sie wollen sich selbst hören können, wollen ihre Worte und Klänge von dem Anderen gespiegelt bekommen und den theatralen Akt der Transformation von ihrem zum anderen Medium erleben.

Kluge Was ist Schmerz? Er ist ja offenkundig je nach Stand verschieden. Die Prinzessin auf der Erbse ist kaum als Arbeitertochter vorstellbar, es muss eine sehr hochstehende Dame sein, die dieses Feingefühl, diese exzessive Mehrwertproduktion an Schmerz entwickeln kann.

Schlingensief Ich würde Schmerz als ein mannigfaltiges Musikinstrument bezeichnen, das über mehr Nuancen verfügt, als die Orgel…

Muntendorf …und als Dissonanz mit der Konsequenz der unmittelbaren Anteilnahme.  Schmerz ist eine produktive Kraft, die nur aus einem Innen kommen und niemals von einem Außen auferlegt werden kann. Schmerz ist nicht relativ, sondern absolut, die Anteilnahme hingegen kann in Hinblick auf Prinzessin und Arbeitertochter variieren.

Aber auch hier kommt das Echo ins Spiel, das Echo als Ausdruck von Schmerz und dem Widerhall als Reflektion, ein theatraler Akt der (Selbst)Erkenntnis und schöpferischer Innovation, ein Stimmenlaut fernab von patriarchischen Entdeckerfantasien und der Suche nach dem Originären in dem Anderen.

Kluge Das ist eine luxurierende Sache. Wenn die Schmerzzufügung nicht stattfindet, dann entsteht die Oper als Luxusinstrument?

Muntendorf Als ein Fake-Instrument, heute in Form eines hybriden Jesus.

Kluge Um auf die Tonalität des Schmerzes aufzusetzen ohne dass es den Zuschauer schmerzt?

Muntendorf EchoAches hat keine Zuschauer, es hat vielleicht Leidensgenossen oder Spielgefährten, aber keine Zuschauer in Form von Außenstehenden. Denn auch die haben verlernt, Schmerzen wahrzunehmen. Vielleicht wissen sie es noch nicht, aber das spielt ebenso wenig eine Rolle, wie die Frage, ob man dieses Wissen mit ihnen frontal oder immersiv teilt. EchoAches erhebt die eigenen Stimmen, die Singstimme, die Sprechstimme, die fragile Stimme, die synthetische Stimme, sie erfinden sogar neue Sprachen und erheben das Schweigen. EchoAches hat nichts zu faken, weil schon alles verloren ist. 

Kluge Ich habe Schmerzen, also bin ich…

Muntendorf … also entäußere ich mich. Die Fähigkeit, Schmerzen zu fühlen, schafft Wahrhaftigkeit, nichts Anderes meint der umgangssprachliche Ausdruck „Ich mache mein Ding“. Die Frage in EchoAches ist eine zentrale: Wessen Schmerz transportieren diese Menschen auf der Bühne, wer sind sie und in welcher Rolle treten sie auf? In der Oper übernehmen sie fiktive Charaktere, in EchoAches begeben sie sich auf die bewusste Suche nach ihrem eigenen Schmerz oder verstehen sich als Transmitter meiner Anteilnahme, in beiden Formen entstehen Echoräume, als Projektionen oder als Schablonen. Dem Echo wohnt inne, dass es das Medium wechselt – in der Erzählung ist es Echo, die die letzten Worte Narciss’ wiederholt oder die nach der Auflösung ihres Körpers als Gebirgswand die eigenen Worte zurückschallen lässt. In dem ich nicht spreche, sondern mich höre, höre ich aus der Perspektive des Anderen mir zu. EchoAches möchte sich diese Fähigkeit, eine Art Performanz des Zuhörens, zurückerobern, um überhaupt wieder empfinden zu können.

Kluge Die Oper konzentriert das Lebensgefühl, das in der Alltagspraxis so konzentriert nicht vorkommen kann, denn sonst hätten wir Mord und Totschlag in jedem Schlafzimmer.

Muntendorf Ja, es ist absurd, denn insofern stellt die Oper für eine betäubte Gesellschaft einerseits eine Utopie dar, weil sie den Schmerz zum Gegenstand macht, und gleichermaßen eine Entfremdung, weil sie ihn pornografiert. Und da sind wir dann bei dem Massaker im Schlafzimmer. EchoAches verhandelt den Schmerz – MusikerInnen, TänzerInnen, SchauspielerInnen usw. begeben sich zusammen in eine Recherche, in verschiedene mehrtägige Phasen von Expeditionen zu den Grenzen der anderen und inmitten in eine Differenz des Miteinanders. Gemeinsame Nenner interessieren nicht, wenn eine Schlagzeugerin auf einen Tänzer trifft, dann ist der gemeinsame Nenner das, was wir überwinden müssen, um eine eigene Sprache zu entwickeln. Diese Differenzen liegen in EchoAches übrigens auch grundlegend in der Transkulturalität, etwas, was ich in der Oper vermisse.  Wir leben in Transkulturen, in Durchmischungen, wir müssen viele Diskurse führen und künstlerisch verhandeln, was für ein Abenteuer! Die Oper ist weiss. Sie muss die Chance bekommen, Farbe zu bekennen, sich in unsere Zeit zu schwingen und ihr Dasein nicht nur als blasse und antiquierte Referenz zu fristen. Deswegen führen wir unsere künstlerischen Recherchen zum Schmerz im Feld Kultur, Klang, Bewegung und Technik auch in Proberäume, die an Opernhäuser angeschlossen sind, es sind sogar OpernsängerInnen dabei, einige aus dem Chor und einige MusikerInnen aus dem Opernorchester. Wir können nicht den ganzen Korpus auf einmal verändern, aber wir können Stück für Stück diese talentierten MusikerInnen in unsere Prozesse integrieren.

Kluge Das Motto der Veranstaltung heißt: „Gleichgültigkeit zerstört alles“. Apathie ist der einzige Zustand, der hassenswert ist.

Muntendorf Apathie ist bedrohlich, weil sie anwesend abwesend ist. 

Kluge eine Betäubung…

Muntendorf …nehmen wir die jetzige Situation zum Beispiel. Wie schmerzhaft ist die Erkenntnis, dass Kunst in brisanten Zeiten keine Bedeutung zugeschrieben wird. Dabei ist es gerade das Musiktheater, jede Form von hybriden Zusammenkünften, die Gesellschaften wie EchoAches nun als Labor für ihre Studien brauchen, um sich zu artikulieren, zu widersprechen, auszuloten, zu verbinden, damit sie eben nicht in die Falle tappen, das äußere Geschehen in einfache Übersetzungen zu bringen und in Redundanz, Variation und die daraus resultierende Apathie zu verschwinden. 

Wenn wir über Musiktheater der Gegenwart sprechen, dann sprechen wir darüber, ob wir das Spielfeld Gegenwart in Form eines wie auch immer gesetzten Narrativs bewusst vorgeben und somit auch begrenzen, ob wir Gegenwart geschehen lassen und den Dynamiken von An- und Abwesenheiten ihren Lauf lassen oder ob wir die Gegenwart künstlerisch vermessen und als Spiegelbild der Auseinandersetzung definieren.

Alle drei Vorgehensweisen können zu vielfältigen Formaten führen, die ebenso reflektierend wie trivial begleitend erscheinen können. 

Es ist nicht das Format, das Visionen verkörpert, es sind die Gesellschaften wie EchoAches, ein Korpus aus Voneinander-Schöpfenden, die die Visionen in Form von Schmerz in sich tragen. Und diese Vision sucht sich ihren Weg im Gegenwärtigen.

Kluge Was unterscheidet einen Hilfeschrei von einem Operngesang? Gibt es einen Unterschied?

Muntendorf Der Hilfeschrei macht heiser. 

Kluge Authentizität ist kein Idol der Oper?

Muntendorf Die Oper ist höflich, das ist wahrscheinlich ihr höfischer Hintergrund.

Kluge Wie würden Sie Oper eigentlich definieren? Was ist das für eine seltsame Sitte? Richard Wagner saß einmal vor Rossini und sagte: Es muß authentischer, wahrhaftiger sein, die Oper muß Wirklichkeitsgesangsein. Und Rossini sagte: Haben sie schon irgendwann einmal im praktischen Leben Menschen singen hören? Ist nicht auch etwas falsch an dem, was Rossini gesagt hat?

Muntendorf

Wir wollen ja die Realität verlieren, sie unmöglich machen, wenn wir Kunst erfahren. Das ist ja das wundervolle Moment, gerade im Theater, in der Performance und im Musiktheater – wenn sich plötzlich alles zu einer in diesem Moment entstehenden Logik verbindet, der wir herausgelöst aus allen uns umgebenden Kontexten folgen und uns verführen lassen können. Es geht eben nicht um einen „Wirklichkeitsgesang“, sondern darum, verlorenen Realitäten eine Stimme zu geben.

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 zwei Männer in der Betrachtung eines Käses 

Bild: Michael Feindura und Sören Grochau 

Quelle: https://www.saechsische.de/zwei-maenner-in-betrachtung-eines-kaeses-5067587.html

Interview/ Quelle: Alexander Kluge, „Schlacht um die Oper“ Christoph Schlingensief über den ERSTEN IMAGINÄREN OPERNFÜHRER auf dem LOVEPANGS-KONGRESS, Facts & Fakes 2/3, S.64 ff